Es gibt Tage, die wirken wie jeder andere, bis irgendetwas Besonderes passiert. Und genau so war es auch heute, Tag 138 in Japan.
Es war bereits spät am Abend und ich stand in der Wohnküche uns spülte gerade das dreckige Geschirr, das sich in den letzten Tagen angehäuft hatte. Yosuke stand nur zwei Meter entfernt an der Waschmaschine und räumte gerade seine Wäsche ein, während wir uns unterhielten. Und plötzlich hörten wir Lärm von draußen vor der Wohnungstür. Nun, es ist nicht unbedingt selten, dass jemand mal etwas lauter heimkehrt, schließlich wohnen wir in einem Gebäude, das größtenteils von Ausländern bewohnt wird, die insbesondere in der vorlesungsfreien Zeit abends ausgehen und dann etwas angetrunken mitten in der Nacht heimkehren. Es war erst kurz nach elf Uhr, was für partywütige Heimkehrer viel zu früh war, aber in den ersten Momenten machten sich Yosuke und ich gar keine Gedanken. Als die lauten Stimmen von draußen nach einer Weile noch immer nicht abgeebbt waren, wurden Yosuke und ich aber allmählich misstrauisch und wir schauten durch den Spion nach draußen, konnten aber nichts sehen. Eine laute, derbe Stimme tönte über allen anderen und brüllte laut auf japanisch durch die Gegend, doch Yosuke und ich konnten fast nichts verstehen, außer einigen wüsten Beschimpfungen. Wir wechselten Blicke, dann öffnete Yosuke die Tür und blickte hinaus. Ich konnte zwar nichts sehen, aber Yosuke schilderte mir kurz darauf, dass ein wohl sturzbetrunkener, alter Japaner einen alten Mann anbrüllte, der zwei Wohnungen von uns entfernt wohnte. Worum es ging konnten wir nicht ausmachen, aber der sturzbetrunkene Japaner wurde nicht müde den alten Mann immer wieder und wieder anzuschreien, während dieser nur dastand und sich am laufenden Band entschuldigte und verneigte. Irgendwann bemerkte einer der zahlreichen Männer, die mit dem Betrunkenen gekommen waren, Yosuke und teilte ihm lächelnd aber bestimmt mit, dass alles in Ordnung wäre. Im Hintergrund schrie der Betrunkene dem alten Mann weiterhin seine Hasstiraden entgegen. Und so schloss Yosuke erst einmal die Tür und berichtete mir alles.
Das Gebrüll nahm aber kein Ende und wir fragte uns warum niemand anderes aufmerksam wurde. Irgendwann hörten wir dann Gepolter von draußen und als Yosuke ein weiteres Mal vorsichtig die Tür öffnete, sahen wir wie der Betrunkene den alten Mann mit einem Regenschirm blutig schlug. Immer und immer wieder schlug er auf den alten Mann ein, der unentwegt eine Entschuldigung nach der anderen vor sich hinwimmerte. Und da konnten Yosuke und ich nicht länger tatenlos zusehen, denn offensichtlich war nicht alles in Ordnung. Yosuke lief eine Etage nach unten, um jemanden zu kontaktieren, der die Polizei rufen sollte, während ich alleine und ängstlich in der Wohnung stand und befürchtete, dass jeden Moment jemand meine Tür aufreißen würde, um mich nach draußen zu zerren. Worum der Streit inhaltlich ging, weiß ich nicht, aber offensichtlich hatte der Betrunkene mit seinen Anhängern die Machtposition inne, weshalb der alte Mann nicht einmal versuchte Gegenwehr zu leisten. Die ganze Zeit über vermutete ich irgendeinen Bezug zur Yakuza, der japanischen Mafia, begründen kann ich es aber nicht. Warum ging der alte Mann nicht einfach in seine Wohnung und schloss die Tür?
Nach einigen Minuten, die sich wie Stunden zogen, kam ein ganzer Trupp Polizisten angestürmt und verschwand mit allen Beteiligten in der Wohnung des alten Mannes. Und das war auch fast das Letzte, was ich an diesem Abend mitbekam. Nur einige Zeit später kam eine Frau nach draußen und versuchte die gröbsten Blutflecken mit Terpentin vom Boden zu schrubben, um alle Erinnerungen an diesen Abend zu beseitigen. Für den Rest des Abends war es dann still, dennoch war Yosuke und mir der ganze Vorfall nicht ganz geheuer. Erst gegen Mitternacht, als schon seit geraumer Zeit nichts mehr zu hören gewesen war, schlich ich mich den Gang entlang zur Wohnung des alten Mannes. Die Tür war aufgebrochen und nur leicht angelehnt. Kein Wunder, dass er nicht versucht hatte einfach die Tür zu schließen. Ein wenig eingeschüchtert machte ich schnell ein paar Bilder, dann huschte ich wieder zurück. In meinen Ohren noch die Stimme des Betrunkenen, in meiner Nase noch der Geruch von Terpentin und in meinem Kopf eingebrannt das Bild von Blut auf dem Boden.
Bild1: Die Reste von Blut auf dem Boden. Eine Erinnerung, die man gerne aus dem Kopf verbannen würde.
2 Kommentare:
Ohje, das war ja ganz schön brutal! Ich glaube, das ist einer der Momente, in denen man nicht glauben kann, dass das, was man gerade sieht, real ist. Und man vor lauter Hilflosigkeit nicht weiß, wie man das ganze am besten unterbindet. Wirklich gut, dass ihr so schnell gehandelt habt. Wer weiß, wie es sonst geendet hätte!
Da muss ich aber viel Lob an Yosuke weitergeben, der mit strengem Blick in der Tür stand und gar keine Furcht zeigte, als er die Szenerie beobachtete. Ich hätte viel zu viel Angst davor gehabt, dass die Männer auch auf mich losgegangen wären.
Aber Yosuke hat fast schon frech alles angeschaut und sich gar nicht darum gekümmert, dass einige ihn ganz misstrauisch anschauten. Entweder ist er verdammt mutig und selbstbewusst, oder einfach nur unvorsichtig und leichtsinnig. Vielleicht auch beides.
Zumindest ist ja alles gut ausgegangen. Und als ich heute mal im Vorbeigehen zur Tür hinübergesehen habe, war die Tür samt Schloss auch wieder vollkommen intakt.
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