Ich bin noch nie jemand gewesen, der seinen Geburtstag mit großen Veranstaltungen oder besonderen Ausflügen gefeiert hat. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich nicht einmal genau daran erinnern, wie ich in den letzten Jahren meinen Geburtstag verbracht habe. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass mein Geburtstag Ende Januar für gewöhnlich in der stressigen Phase vor den Klausuren liegt, zu deren Zeitpunkt jeder mit Lernen beschäftigt ist und man, selbst wenn man wollte, gar keine großen Veranstaltungen abhalten kann. Darum war mein Geburtstag in den letzten Jahren nicht viel mehr als ein ganz gewöhnlicher Tag, an dem man aus gegebenem Anlass mehr E-Mails und Anrufe als sonst erhielt. Und so war auch Tag 132 in Japan, mein 23. Geburtstag, keine Ausnahme: Es war eigentlich ein ganz gewöhnlicher Tag.
Meine Freundin Helene hatte für diesem Tag treffend festgestellt, dass es immerhin einmal ein Geburtstag sei, an dem ich mich nicht in der Klausurvorbereitung befände, was auch stimmte. Sehr viel änderte es allerdings nicht, weil jeder um mich herum beschäftigt war: Tak musste Hausarbeiten schreiben, Katharina hatte ganztags Praktikum, Ayano war mit Bewerbungsgesprächen und Stellensuche ausgelastet, Lee hatte Unterricht und Nobuko war auch mit ihrem universitären Alltag beschäftigt. Um aber doch nicht vollkommen alleine dazusitzen, hatte ich für das Wochenende alle zu einem gemeinsamen Essen im Restaurant eingeladen, genauso wie ich es von Taks, Katharinas und Nobukos Geburtstag kannte. Für meinen eigentlichen Geburtstag erwartete ich somit nicht viel, vielleicht würden abends Lee und Katharina vorbeischauen, vielleicht sogar Tak, obwohl dieser schon vorher angemeldet hatte, dass er sehr viel um die Ohren hatte.
Und so begann mein Geburtstag pünktlich um Mitternacht mit den Glückwünschen meiner Freundin Ninja übers Telefon, was eine kleine, aber feine Variante des verbreiteten "Hineinfeierns" war. Nachdem ich dann meinen Geburtstag bis zum Vormittag verschlafen hatte, verbrachte ich den Tag dann sehr bodenständig: Ich kochte mir Mittagessen, lernte, las und räumte auf. Aber eine Sache war doch anders: Den ganzen Tag über erhielt ich Glückwünsche über E-Mails, Kommentare oder Anrufe, was mich ein wenig rührte, da ich weitaus mehr Glückwünsche erhielt, als ich es noch von den Jahren zuvor gewohnt war.
Am Abend klingelte es dann und Tak stand vor der Tür. Und nachdem er grinsend nachfragte, ob ich wirklich gedacht hätte, dass er mich an meinem Geburtstag alleine sitzen lassen würde, zog er sich die Schuhe aus, schlurfte in mein Zimmer und ließ sich auf den Boden fallen. "Müsstest du nicht Hausarbeiten schreiben?", fragte ich ihn neugierig, woraufhin er schlapp auf dem Fußboden liegend nuschelte, dass er soeben seine Arbeiten abgegeben habe und nun seit über achtundvierzig Stunden nicht mehr geschlafen habe. Als ich ihm anbot sich wenigstens auf das Bett zu setzen, schaute er nur zu mir hinüber und stellte ernst fest: "Wenn ich mich jetzt auf etwas Weiches und Bequemes setze oder lege, schlafe ich sofort ein. Deswegen bevorzuge ich den Fußboden.". Und darum setzte ich mich zu Tak auf den Fußboden und präsentierte ihm nach einem kurzen Gespräch mein Lernbuch für die Japanische Sprache, was er mit einem Lachen in die Hand nahm. "Ist das Buch so schlecht, dass du lachst?", fragte ich. "Nein, nein. Aber das kenne ich, das Buch. Mit genau dem habe ich zu meiner Schulzeit auch lernen müssen. Das ist ja nostalgisch.", antwortete er und begann mit glitzernden Augen mein Lernbuch durchzublättern. "Ich sollte auch wieder Schriftzeichen lernen, ich habe die alle schon wieder vergessen.", stellte er beim Anschauen fest, woraufhin ich ihn aus zugekniffenen Augen anstarrte: "Nimmst du mich auf den Arm? Du kannst die doch alle.". Tak warf mir einen langen Blick zu, dann schlug er das Buch auf einer beliebigen Seite auf und ratterte die Lesungen aller Schriftzeichen auf der Seite so schnell herunter, dass ich nicht einmal folgen konnte und überrascht feststellen musste, dass er bereits fertig war, als ich noch irgendwo in der Mitte versuchte den Anschluss zu finden. "Das Lesen ist Kinderkram. Aber der Rest?", sagte er mit einem vielsagenden Blick und schlug das Buch auf einer anderen Seite auf. Für eine Weile blickte er auf eine Aufgabenstellung, dann schüttelte er lachend den Kopf: "Ich kann diese Aufgabe nicht lösen. Ich müsste raten.". "Echt?" fragte ich erstaunt und überlegte kurz: "Ich habe mal gehört, dass viele jungen Leute in Japan große Probleme haben noch selbst japanische Schriftzeichen zu schreiben, weil sie heutzutage viel öfter alles mit den Computer schreiben.". "Genau", pflichtete mir Tak bei und begann auf einem Stück Papier ein Schriftzeichen zu schreiben, über das wir kurz zuvor gesprochen hatten. "Ich weiß nicht welche Striche hier hin müssen. Wenn ich es sehen würde, erkenne ich es sofort. Aber es selbst zu schreiben, das ist echt eine Herausforderung.", sagte er und tippte eine Weile lang mit der Stiftspitze auf das unvollendete Schriftzeichen, bis ich den Stift nahm und den fehlenden Bestandteil hineinschrieb. Tak schaute eine Weile darauf, bis er nickte und mit einem Blick zu mir schaute, der zu fragen schien "Habe ich es dir nicht gesagt?", dann sagte er: "Schau, du kannst das besser als ich! Deswegen müsste ich das unbedingt auch wieder lernen.". Und so erzählte er mir, dass er vor einigen Jahren einen begleitenden Test zu meiner Lernbuchreihe gemacht hatte und auf Stufe drei eingestuft worden war, was der aktiven Beherrschung von rund 1600 japanischen Schriftzeichen entspricht, wohingegen ich nach Beendigung des Lernbuchs offiziell rund 1000 Schriftzeichen beherrschen sollte. Eigentlich beherrschte ich aber weitaus mehr, was schlichtweg damit zusammenhängt, dass ich nun mit mittlerweile vier verschiedenen Lernbüchern gelernt hatte, die alle unterschiedliche Schriftzeichen lehrten.
Einige Zeit später klingelte es erneut und Katharina stand in der Tür, gratulierte mir und drückte mir Getränke in die Hand, die sie soeben gekauft hatte: "Ich wollte nicht mit leeren Händen zu deinem Geburtstag kommen, obwohl du dein eigentliches Geschenk erst Übermorgen bekommst, wenn wir essen gehen.". Und so trat sie in die Wohnung, zog ihre Schuhe aus und setzte sich in meinem Zimmer auch zu Tak auf den Fußboden. Und dann verbrachten wir den Abend damit uns im Internet gegenseitig lustige Videos zu zeigen und über deutschen und japanischen Humor zu diskutieren. Als Katharina und ich Tak einige deutsche Videos zeigten, versuchte ich möglichst schnell das Gesagte ins Englische zu übersetzen, damit Tak überhaupt etwas verstehen konnte, was zu meinem Erstaunen auch erstaunlich gut funktionierte. Irgendwann klingelte dann Taks Mobiltelefon und Nobuko rief an, um mir persönlich zu gratulieren, offensichtlich hatte sie gewusst, dass Tak bei mir war. Und so telefonierte ich über eine halbe Stunde lang mit Nobuko und hatte das Gefühl noch einen weiteren Gast zu Besuch zu haben.
Als es schließlich später wurde und alle Hunger bekamen, kochte ich für alle einen großen Topf Spaghetti, bei dessen Verzehr alle hungrig zulangten. Danach machten sich Katharina und Tak nach mehreren Stunden auf den Heimweg, beide waren erschöpft und wollten endlich in ihr Bett fallen und schlafen. Also verabschiedeten wir uns voneinander und ich schlurfte zurück in mein Zimmer. Und glücklich setzte ich mich auf mein Bett und lernte den Rest des Abends fleißig weiter Japanisch, wie jeden Abend. Und so war es im Großen und Ganzen ein Geburtstag wie jeder andere: Keine aufwendige Feier, kein besonderer Ausflug, nicht einmal große Geschenke oder ausgefallene Glückwünsche. Aber das war auch gar nicht nötig, denn ich war vollkommen glücklich und zufrieden, wie an all den Geburtstagen in den Jahren zuvor. Und so war es eben ein ganz gewöhnlicher Geburtstag.
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Anmerkung: Es ist reiner Zufall, dass der Beitrag über meinen Geburtstag gleichzeitig auch mein 100. Beitrag auf diesem Blog ist. Somit also doppelter Grund zum Feiern.
4 Kommentare:
Der Eintrag ist ja putzig ^^
Wenn ich am Dienstag dann endlich auch alle Klausuren hinter mir hab, können wir anfangen zu planen und dann wirst du auch bald dein Geburtstagsgeschenk erhalten ;D
Meine Mutter hat Anfang Januar ein Paket für meinen Geburtstag losgeschickt, das bis jetzt immer noch nicht angekommen ist. Und Dominic bringt sein Geschenk mit, wenn er im März kommt. Somit bist du geradezu auf der Pole-Position mit einem nachträglichen Geschenk Mitte Februar : )
Und ja, lass uns unbedingt etwas unternehmen. Da Katharina immer im Praktikum ist und Lee ständig abspringt, unternehme ich alle meine Trips alleine. Das macht zwar auch Spass, aber ein wenig Begleitung ist doch weitaus angenehmer.
Ich freue mich bald von dir zu hören und drücke dir die Daumen für deine restlichen Klausuren : )
Also das war ja wirklich ein schöner Gebutstag!
Mich überrascht übrigens, dass du ein ganz gewöhnliches Schulbuch zum Lernen hast. Aber warum eigentlich nicht, die japanischen Kinder müssen die Zeichen ja schließlich auch mal alle irgendwann lernen. Und solange du nicht auf eine Übersetzung angewiesen bist, tut es so ein Buch ja auch.
Noch mehr überrascht mich allerdings, dass das, was du lernst, selbst viel Japaner nicht mehr können.
Hut ab!
Um genau zu sein, ist das Buch, mit dem ich lerne, kein Schulbuch. Es ist vielmehr ein unabhängiges Lernbuch, das vielen japanischen Schülern zu Selbststudium ans Herz gelegt. Man muss dazu sagen, dass hier in Japan solche zusätzlichen Lernmaterialien zu sämtlichen Fächern und Fachgebieten boomen. In den hiesigen Buchhandlungen ist meist ein Viertel der Regale gefüllt mit Übungsbüchern für Schriftzeichen, Kompaktwissen Geschichte, Konversationstraining für Englisch oder auch Sammelbänden mit Klassikern der Weltliteratur. Das lernt man alles eifrig, um dann die anspruchsvollen Aufnahmeprüfungen an der Universität zu bestehen.
Aber jetzt hast du mich ein wenig neugierig gemacht wie Unterricht für Schriftzeichen für gewöhnliche Japaner abläuft. Ich werde noch einmal jemanden dazu befragen, vielleicht Tak, Nobuko oder Ayano. Vielleicht können sie mir sogar ihre Lernunterlagen aus der Schule zeigen. Das wäre sicher interessant.
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