Dienstag, 28. April 2009

Im Namen der Wissenschaft

Es ist schon einige Wochen her, dass ich eine E-Mail von meiner Professorin für japanische Geschichte und Gesellschaft aus Marburg erhielt. Darin schrieb sie, dass sie einen Vortrag über "Hanami - Das japanische Kirschblütenfest" halten würde und bat mich darum ihr aktuelle Bilder von der japanischen Kirschblüte zu schicken. Allerdings weniger Aufnahmen von den tatsächlichen Blüten, als vielmehr Bilder davon, wie Japaner und Japanerinnen die Kirschblüte feiern. "Fotografieren tue ich gerne", dachte ich mir, "Und wenn ich damit auch noch der Wissenschaft helfen kann, nehme ich dieses Angebot gerne an.". Da es allerdings noch viel zu kalt war und die Kirschblüte erst in einigen Wochen beginnen sollte, behielt ich mir meinen Auftrag vorerst im Hinterkopf und genoss meine Zeit mit Dominic und den Urlaub in Kyoto und Nara. Und erst nachdem Dominic nach Deutschland geflogen war und die Kirschblüte in Japan stetig näher rückte, hielt ich die Zeit für gekommen mein Versprechen einzulösen und mich im Namen der Wissenschaft in die überfüllten, japanischen Parks Tokyos aufzumachen.
Mittlerweile war bereits der Morgen meines 199. Tages in Japan und ich saß ungeduldig in meinem Bett. Seit knapp drei Tagen war Japan wegen der Kirschblüte, einem der größten Ereignisse des japanischen Kalenderjahrens, vollkommen aus dem Häuschen: In den Supermärkten wurden Waren in speziellen Kirschblüten-Editionen angeboten, in den Schaufenstern der Geschäfte wurde alles mit rosafarbenen Blüten verziert, Reisebüros boten Kurztrips zu den beliebtesten Plätzen zur Kirschblütenschau an und in den Wetterberichten wurde ausgiebig darüber berichtet, wie sich die Kirschblütenfront über Japan bewegte, wo es zu blühen begann, wo bereits alles mit rosafarbene Blütenblätter bedeckt und wo die Blütezeit schon wieder vorbei war. Seit drei Tagen war ich nun schon unterbrochen mit Unmengen an nützlichen und unnützen Informationen rund um die Kirschblüte in Japan umgeben und hatte dennoch noch keine Bemühungen gezeigt sie mir selbst anzuschauen. Warum? Nun, es lag an einem ganz banalen Grund, dass ich schon seit Tagen in meinem Zimmer hockte und nicht hinaus ging. Und dieser Grund lag schon seit geraumer Zeit in der Abstellkammer der Wohnung: Es war die Reisetasche, die Katharina dort vor mittlerweile fast einer Woche deponiert hatte ("Katharina und das Dilemma des letzten Abends"). "Wann holst du die Tasche wieder ab?", hatte ich sie gefragt und ihre Antwort lautete: "Am Freitagabend. Oder am Samstag.". Mittlerweile war Montag und mein Gewissen lies es nicht zu einfach die Wohnung zu verlassen, wenn sie jeden Moment vor der Tür stehen könnte, um ihr Gepäck abzuholen. Und so hatte ich Tag um Tag in meinem Zimmer gesessen, hatte die Wohnung nur eilig zum Einkaufen verlassen und stets darauf gewartet, dass sie kommen würde. Es wäre nicht so, dass sie keine E-Mail geschrieben hätte, um mir einen Termin mitzuteilen, an dem sie kommen würde, nein, E-Mails hatte sie en masse geschrieben und in jeder Einzelnen hatte sie ihre Ankunft um einige Stunden oder einen halben Tag hinausgeschoben. Und so wurde aus Freitagabend Samstag, aus Samstag Sonntag und schließlich aus Sonntag Montag. Und so kam es, dass ich am Morgen des 199. Tages ungeduldig in meinem Bett saß und den Entschluss fasste heute nach Tokyo zu fahren, um mir in einem der großen Parks die Kirschblüte anzuschauen, bevor eines der größten Spektakel Japans an mir vorüber gezogen sein würde.
Am Mittag wollte Katharina kommen und gesetzt den Fall, dass diese Angabe tatsächlich stimmte, plante ich den Verlauf des Tages. Am Mittag wollte ich samt meiner Kamera und Essen nach Tokyo zum Ueno-Park fahren, der einer der beliebtesten Orte zur Kirschblütenschau ist. Und bis ich am späten Nachmittag wieder zurückkommen wollte, musste ich jemanden finden, der auf Katharinas Tasche aufpassen würde. Die einfachste Lösung wäre mein Mitbewohner Yosuke gewesen, der allerdings schon am frühen Morgen aufgebrochen war und vermutlich erst wieder nachts heimkehren würde. Und so setzte ich all meine Hoffnung in Lee. "Ich fahre heute mit Kabor weg, tut mit leid.", schlug Lee meine Bitte mit offensichtlichem Mitleid ab. Und auch nachdem ich ihr detailliert mein gesamtes Dilemma geschildert hatte und sie bat ihren Ausflug nur um einige Stunden nach vorne oder hinten zu verschieben, damit ich mit gutem Gewissen für ein paar Stunden nach Tokyo fahren würde, musste sie weiterhin ablehnen: "Wir fahren für einige Tage nach Kyoto. Das kann ich leider nicht verschieben. An anderen Tagen hätte ich alles gemacht, was ich könnte, aber ausgerechnet heute geht es nicht. Und ab morgen bin ich dann mit Kabor erst einmal weg.". Und so standen wir in Lees Wohnung und überlegten, was wir wohl machen sollten. Ich ärgerte mich Katharinas Tasche angenommen zu haben, hätte ich doch wissen sollen in welch einem Chaos all dies enden würde. "Wenn ich du wäre", begann Lee schließlich plötzlich, "dann würde ich jetzt einfach nach Ueno fahren. Mach dir einen schönen Tag und denk nicht an Katharina. Sie hat dich jetzt schon seit Tagen sitzen lassen, da würde es ihr recht geschehen, wenn sie jetzt auch einmal sitzen gelassen wird. Die Welt dreht sich schließlich nicht um sie.". Ich war ein wenig überrascht solch harte Worte von Lee zu hören, die sich sonst mit Meinungsäußerungen jeder Art sehr zurückhielt, doch sie hatte recht. Und so packte ich meine Sachen, schickte Katharina eine kurze Mail, in der ich ihr schrieb, dass ich heute tagsüber nicht da sein würde und lief endlich zum Bahnhof von Soka. Mit dem nächsten Zug führ ich bis zum weitläufigen Ueno-Park und schaute mir nach tagelangem Warten endlich die Kirschblüte an. Und im Namen der Wissenschaft schoss ich Unmengen von Bildern.


Bild1: Dieses Bild bot sich mir, als ich den Ueno-Park betrat. Massen von Menschen, die alle nur aus einem Grund gekommen waren: Die Kirschblüte.


Bild2: Ein Blick auf den wohl überfülltesten Weg des Ueno-Parks: Die zentrale Allee, die nur von Kirschbäumen gesäumt war. Einerseits kann man unzähligen Kirschbäume sehen, andererseits die Besuchermassen, die sich unter jenen langsam von einem Ende der Allee zum anderen bewegen.


Bild3: Das darf natürlich nicht fehlen: Inmitten der Menge berichtet ein Fernsehteam von dem Spektakel. Links im Bild sieht man den Kameramann, die Frau rechts im Bild mit dem weißen Pullover war die Berichterstatterin.


Bild4: Auf dem Bild sieht man, was fast jeder Passant tat: Fotografieren. Und viele beschränkten sich nicht nur auf die Kirschblüten, sondern fotografierten genauso wie ich auch die Menschen, die die Kirschblüte feierten.


Bild5: Und so sah es rund um die Kirschbäume aus: Unter den rosafarbenen Blüten waren unzählige blaue Planen ausgebreitet, auf denen die Besucher meist in größeren Gruppen Platz nahmen und die Kirschblüte feierten.


Bild6: Wer sich nun denkt, dass Japaner die Kirschblüte feiern, indem sie andächtig unter den Kirschbäumen sitzen und die Kirschblüte in ihrer Vollendung und Perfektion bestaunen, der liegt vollkommen falsch. Denn "feiern" bedeutet nichts anderes als sich gepflegt oder weniger gepflegt zu betrinken. Und das sieht man auf dem obigen Bild recht deutlich: Man findet sich in Gruppen zusammen und trinkt zusammen ausgiebig Alkohol.


Bild7: Ja, man kann es nicht oft genug betonen: Der Alkohol fließt in Strömen. Bei Jung und Alt, Jungen und Mädchen.


Bild8: Und wo getrunken wird, wird auch gegessen .


Bild9: Vor den Planen zieht man seine Schuhe aus und läuft fortan in Strümpfen. Natürlich darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch ziemlich kalt ist. Doch es gibt ein beliebtes Mittel gegen die Kälte: Man trinkt Alkohol. Wer hätte das wohl gedacht...


Bild10: In Zeiten von teuren Designerschuhen und allgemeiner Verwestlichung ist es immer häufiger geworden kleine selbstgebastelte Schuhregale aus Schuhkartons anzutreffen, vorallem bei den jungen, modebewussten Japanern und Japanerinnen.


Bild11: Von andächtiger Stille kann bei der Kirschblüte in Japan wirklich nicht die Rede sein, wenn man die zahlreichen ausgelassenen Trink- und Partyspiele beobachtet.


Bild12: Und so trinkt man oder döst vor sich hin. Oder man trinkt, bis man nur noch vor sich hin döst. Manchmal konnte man dies als Außenstehender nicht unterscheiden. Fakt ist allerdings, dass direkt neben den Kirschbäumen ein Notarztzelt aufgebaut war.


Bild13: Diese Bilder von leeren Plätzen zeigen nicht etwa, dass es an Besuchern mangeln würde, sondern sind ein Beispiel für die Anmietung großer Flächen von großen Firmen. Einige unglückliche Neulinge müssen bereits früh kommen, den Platz reservieren, aus Pappe Tische und Sitzgelegenheiten basteln und dann in der Kälte verharren, bis ihre Kollegen kommen.


Bild14: Und so sieht man nicht nur Jugendliche, sondern auch viele Geschäftsmänner. Ich habe vereinzelt sogar Gruppen von Älteren getroffen. Das Feiern der Kirschblüte ist somit nicht nur der trinkwütigen Jugend vorenthalten, sondern ein Fest für jeden.


Bild15: So lernt man sich kennen: Vorgesetzte (links) und neue Angestellte (rechts). Ein typisches Bild bei der Kirschblütenschau. Und immer sahen die jungen Angestellten recht unglücklich und angespannt aus.


Bild16: Wo in Japan große Feste und Menschenmassen sind, können die typisch japanischen Verkaufsbuden nicht weit entfernt sein. Und so fand sich im Ueno-Park, nicht weit von den Kirschbäumen entfernt, ein Abschnitt, in dem man warme Mahlzeiten und natürlich Alkohol kaufen konnte.


Bild17: Bei meinem Spaziergang durch den Park, fand ich auch einen kleinen Schrein, der allerdings gerade renoviert wurde.


Bild18: Nicht weit entfernt brannte die Flamme von Hiroshima, ein Mahnmal an den Abwurf der zwei Atombomben vor knapp sechzig Jahren. Angeblich stammt die Flamme, die man im inneren der metallenen Taube brennen sieht, aus den Ruinen Hiroshimas, nach dem Abwurf der Atombombe.


Bild19: Neben einem Zoo, fand man im Ueno-Park auch diesen kleinen Vergnügungspark für Kinder.


Bild20: Auf einem großen Platz, der sich rund um diesen Brunnen erstreckte, setzte ich mich am Nachmittag nieder, verspeiste meine mitgebrachten Lebensmittel und machte mich schließlich auf den Heimweg.


Die Heimfahrt von Ueno verlief problemlos, allerdings war der Zug vollkommen überfüllt. Vermutlich weil um diese Zeit viele Besucher des Ueno-Parks wieder nach Hause zurückkehrten. Als ich schließlich im Wohnheim ankam, war es bereits dunkel. Ein Blick in mein E-Mail-Fach verriet, dass Katharina meine E-Mail erhalten hatte und noch diesen Abend vorbeikommen wollte, um ihre Reisetasche abzuholen. Zwischen neun und zehn Uhr abends wollte sie vorbeikommen, letztlich kam sie irgendwann nach zehn Uhr. Noch eine Weile unterhielten wir uns zwischen Tür und Angel, doch von meinem Ärger über ihre chaotische Planung verlor ich kein Wort, schließlich war es unser letztes Treffen, bevor sie wieder nach Deutschland zurückkehren würde. Als ich Katharina verabschiedet hatte, schaute ich mir vor dem Einschlafen am Laptop noch meine Bilder an und war zufrieden mit den Aufnahmen, die ich gemacht hatte. "Die Bilder werden sicher auch meiner Professorin gefallen", dachte ich mir und schlief mit dem Gefühl ein der großen Welt der Wissenschaft einen kleinen Dienst geleistet zu haben.

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