Lee ist die einzige amerikanische Studentin an der Dokkyo-Universität, die von der Partneruniversität in Michigan in den U.S.A. kommt. Das ist kein Anlass, um sich einsam zu fühlen, aber ein Grund für das Zentrum für Internationale Angelegenheiten der Dokkyo-Universität, um sie für Vorträge über ihre Heimatuniversität zu verpflichten. Und so muss Lee alle paar Wochen vor einer versammelten Mannschaft von japanischen Studenten, die planen zum Auslandsstudium nach Michigan zu gehen, ein wenig über ihre Heimat und ihre Universität plaudern. Glücklicherweise darf sie ihre Präsentation auf Englisch halten, während ein Dolmetscher alles synchron übersetzt, denn im Japanischen ist sich Lee dann doch zu unsicher.
"Was sind das denn für Studenten, die in deinen Vorträgen sitzen?", fragte ich Lee heute, als wir an meinem 250. Tag in Japan gemeinsam zur Universität liefen.
"An sich ganz normale Studenten. Aber sie haben die Angewohnheit erschreckend still dazusitzen. Ich frage mich manchmal, ob sie Angst vor mir haben."
Ich musste lächeln, als ich mir vorstellte, wie jemand Angst vor Lee haben könnte, schließlich war sie sehr ruhig und zurückhaltend, trug keine auffällige Kleidung und war recht zierlich. Rein gar nichts an ihr hätte auch nur im Entferntesten bei jemandem Angst auslösen können.
"Sie sitzen immer still und teilnahmslos da. Keine Reaktionen. Und als ich mich gestern zum Abschluss meines Vortrages auf Japanisch für ihre Aufmerksamkeit bedankt habe, haben plötzlich alle losgelacht. Habe ich etwa etwas Falsches gesagt?"
Eine Weile diskutierten wir über japanische Redewendungen und Ausdrucksformen und kamen zu dem Ergebniss, dass Lee sich beim Bedanken strikt ans Lehrbuch gehalten hatte. Und so konnte der Grund für das plötzliche Lachen der Zuhörer nicht an ihrem Japanisch gelegen haben.
"Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Japaner manchmal überrascht sind, wenn jemand Japanisch spricht, weil sie es selten erwarten, dass Ausländer ihre Sprache beherrschen. Und um ihre Überraschung und Sprachlosigkeit zu überspielen, haben viele Menschen die Angewohnheit aus Verlegenheit zu lachen. Vielleicht war es bei deinen Zuhörern so ähnlich. Schließlich hast du den ganzen Vortrag auf Englisch gehalten und dich plötzlich auf Japanisch bedankt."
Das schien uns vorerst eine ausreichende Erklärung zu sein und so trennten wir uns und jeder lief zu seinem Unterrichtsraum.
Am Nachmittag war ich dann an der Reihe meine Präsentation zu halten. Inspiriert von einem Gespräch mit einer Freundin aus Deutschland und meinem Treffen mit Milena am Wochenende ("Kulturvergleiche") hatte ich mich entschieden über den Eurovision Songcontest zu referieren. Mit vielen Bildern und leicht verständlichem Inhalt hatte ich mich auf den Vortrag vorbereitet, doch letztlich fragte ich mich wozu ich mir all die Mühe gemacht hatte, denn ein Großteil des Kurses döste während des Vortrags still vor sich hin, ohne auch nur zu versuchen interessiert zu wirken. Wären die Kursteilnehmer während meines Vortrages eingeschlafen, hätte ich den Fehler vermutlich bei mir gesucht, doch bereits beim Austeilen der Handouts musste ich einen Zettel neben eine schlafende Chinesin legen und es dauert nicht lange bis auch andere sich in Schlafposition gebracht hatten, ehe ich überhaupt beginnen konnte. Ich versuchte mich nicht beirren zu lassen und hielt wie eingeübt meinen Vortrag, doch ich kann nicht leugnen, dass mich der totenstille Kurs irritierte und gelegentlich ein wenig aus dem Konzept brachte. Und so klebte ich für mein Empfingen viel zu sehr am Manuskript, obwohl ich mich auf einen freien Vortrag vorbereitet hatte. Frau Sakatani fand meine Präsentation dennoch äußerst gelungen und lobte mich frenetisch für mein freies Sprechen, den leicht verständlichen Inhalt, das hilfreiche Handout und die Visualisierung. Dass niemand sich an der Diskussion um meine Präsentation beteiligen wollte, konnte sie nicht verstehen und begann wahllos Kursteilnehmer dranzunehmen. Und als Ma, der während des ganzen Vortrags über geschlafen hatte, nur kurz meinte, dass er rein gar nichts verstanden hätte, platze Frau Sakatani der Kragen und sie fuhr den Kurs an, dass es eine Unverschämtheit sei, während eines Vortrags zu schlafen und so offensichtliches Desinteresse zu zeigen. Am liebsten hätte ich heftig genickt und Beifall geklatscht, doch als Vortragender blieb mir nichts anderes übrig als mit ernstem Gesicht hinter dem Pult stehen zu bleiben und mich innerlich darüber zu freuen, dass ein Lehrer endlich einmal laut gesagt hatte, was mich schon seit Wochen insgeheim störte.
Am Nachmittag traf ich mich mit Ayano in einem Café, um meine zweiten und damit letzten Präsentation dieses Semesters zu feiern. Während wir gemeinsam an einem kleinen Tisch saßen, unseren Cappuccino tranken und uns unterhielten, schaute uns ein kleiner Junge vom Nachbartisch unentwegt an.
"Stört es dich nicht, dass dich der Junge wie ein Zootier anstarrt?"
"Ich habe mich schon daran gewöhnt. Er ist nicht die erste Person hier in Japan, die mich wie einen Außerirdischen anglotzt."
"Das ist so unverschämt. Ich wäre schon längst aufgestanden und weggegangen."
"Naja, so sind Kinder eben. Sie haben noch nicht die Hemmschwelle wegzuschauen. Und wenn sie etwas fasziniert, dann starren sie eben hin. Ich war mal auf dem Postamt, dort stand ein kleines Mädchen, das mich ununterbrochen angestiert hat. Selbst als die Mutter mit ihren Erledigungen fertig war und ihre Tochter nach draußen zerrte, konnte das Mädchen nicht aufhören sich an mir satt zu sehen."
"Mir ging es in Kanada ähnlich. Jeder hat mich angeschaut, weil ich eine Asiatin war. Hier in Japan ist es wohl vergleichbar, wenn man Ausländer ist. Mich würde es jedenfalls stören."
"Als ich noch ganz klein war, ging ich einmal in einem Kaufhaus verloren. Und als ich so dastand und weinte, fand mich ein hochgewachsener, dunkelhäutiger Mann. Ich weiß gar nicht wovor ich damals mehr Angst hatte, vor dem großen, schwarzen Mann, oder davor, dass ich meine Mama nie wieder sehen würde. Letztlich war meine Mama nur auf der anderen Seite des Wühltisches, keine große Sache, aber die Begegnung mit dem Mann ist mir in Erinnerung geblieben. Soweit ich zurückdenken kann, ist er der erste Dunkelhäutige, dem ich je begegnet bin, und natürlich hatte ich Angst, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Menschen mit dunkler Haut gesehen hatte. Ich denke so ähnlich geht es japanischen Kindern: Sie haben Angst oder sind fasziniert von mir, weil ich mich von den Menschen, die sie sonst in Japan sehen, unterscheide. Aber vielleicht hilft ihnen das ja, sich an Menschen zu gewöhnen, die anders sind. Denn wenn sie Ausländer oft genug sehen, dann ist es irgendwann nichts Besonderes mehr. Genauso wie für mich Dunkelhäutige keine angsteinflößenden Menschen mehr sind."
Eine Weile saßen wir da, rührten in unseren Cappuccinos herum und schauten uns die umsitzenden Menschen an.
"Ich verstehe. Aber an deiner Stelle wäre ich dennoch aufgestanden."
"Das ist schon okay. Der kleine Junge ist übrigens nicht der Einzige, der mich anstarrt. Direkt hinter dir sitzt ein kleines Mädchen, das mich auch die ganze Zeit mit offenem Mund beobachtet."
Ruckartig drehte sich Ayano um und musste lachen, als sie das Mädchen sah, das mich mit offenem Mund unentwegt anschaute. Sie schüttelte lächelnd den Kopf und trank ihren Cappuccino leer.
"Vielleicht ist sie ja verliebt in dich."
Ich musste grinsen und leerte ebenfalls meinen Cappuccino.
"Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Das könnte natürlich auch sein."
Lachend und witzelnd verließen wir das Café, schauten noch einmal auf die Kinder, die uns noch immer fasziniert beobachteten, und liefen schließlich in eine Unterhaltung vertieft durch Soka.
Von vielen Seiten hatte ich schon oft gehört, dass Japaner nur sehr ungern Fremde in ihr Haus einluden. Lieber kamen sie zu Besuch zu anderen oder trafen sich irgendwo auswärts. Die eigene Wohnung war schließlich ein Stück Privatsphäre und nicht jedem zugänglich. Von Vielen, die in Japan gewesen waren, hatte ich gehört, dass man ein ganzes Jahr hier verbringen konnte, ohne auch nur einmal eine andere Wohnung zu sehen, als seine eigene. Und das war nicht einmal ungewöhnlich, es war schlichtweg der Regelfall. Um so geehrter fühlte ich mich, als Ayano mich einige Tage zuvor im Anschluss an unseren Besuch im Café zu ihr in die Wohnung eingeladen hatte. Unzählige Male hatte ich nachgefragte, ob ihr das auch wirklich recht wäre, doch sie war sich ihrer Sache sicher: In den letzten Monaten waren wir schließlich zu sehr engen Freunden geworden, die sich über viele Themen austauschten. Und wen sonst sollte sie einladen, wenn nicht solch einen engen Freund wie mich.
Einige Minuten stand ich vor dem Wohnhaus, in dem Ayano ihr eigenes kleines Zimmer besaß, und schaute mich neugierig in der Umgebung um, während sie noch schnell ein wenig aufräumte. Angrenzend an das zweistöckige Wohnhaus war ein größerer Acker und ein kleiner Schrein. Ein großer Baum warf Schatten auf das Grundstück und viele kleine Sträucher und Blumenbeete ließen das Gebäude sehr idyllisch und ruhig wirken. Ich knipste ein paar Bilder, bis Ayano die Tür öffnete und mich hereinbat. Am Eingang zog ich meine Schuhe aus und schlurfte in Strümpfen durch ihr kleines Paradies: Eine kleine Kochnische, ein winziges Bad und ein größerer Raum mit Bett, Regalen, einem Schreibtisch mit Computer und einem kleinen Tisch. Mehr brauchte man nicht um glücklich zu leben. Ayano goß jedem einen Tee auf und stellte die heißen Tassen auf den kleinen Tisch, während ich mich mit einer Katze unterhielt, die vor der Balkontür maunzte.
"Ist das deine Katze?"
"Nein, aber sie kommt immer an meine Balkontür und unterhält sich mit mir. Hey, ich glaube sie mag dich. Sonst läuft sie immer weg, wenn jemand Fremdes zu Besuch kommt."
"Na, willst du auch einen Tee?"
"Miau."
"Ah ich verstehe."
"Miau. Miau."
"Also da musst du Ayano fragen. Sie ist die Herrin des Hauses."
"Miau."
"Unterhaltet ihr beiden euch gut?"
"Naja, es geht. Die Katze hat einen sehr staken Akzent. Ich verstehe sie nicht so gut."
Ayano musste lachen, kam zur Balkontür und gemeinsam streichelten wir die Katze, was diese sichtlich genoss. Dann widmeten wir uns unserem Tee und unserem Knabberzeug, während die Katze uns still von der Balkontür aus beobachtete.
"Was ist das, was wir gekauft haben?"
"Das ist getrocknete Qualle. Möchtest du?"
"Ich habe so etwas noch nie gegessen. In Deutschland haben wir keine getrockneten Tiere zum Knabbern. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich ein wenig Ekel vor den den getrockneten Fische habe, die man hier überall essen kann."
"Echt? Ich bin damit aufgewachsen. Darum finde ich sie vermutlich ganz normal. Also wenn du es einmal probieren möchtest: Hier ist deine Chance."
Einen Moment zögerte ich, dann sprang ich über meinen Schatten und griff in die Tüte mit den kleingeschnittenen Quallen und fischte eine Art lederartigen Schnürsenkel heraus. Erst blickte ich ihn misstrauisch an, dann steckte ich ihn in den Mund. Er schmeckte salzig und ein wenig fischig. Und war ziemlich zäh.
"Und? Magst du getrocknete Qualle?"
"Ich muss zugeben, dass es nicht so schlecht ist, wie ich erwartet hatte. Aber ich würde es mir auch nicht zum Knabbern für zu Hause kaufen."
"Du musst es nicht essen, wenn du es nicht magst."
"Es ist okay."
Demonstrativ griff ich ein weiters Mal in die Tüte und zog einen neuen Quallenschnürsenkel heraus, den ich mir in den Mund schob, um darauf herum zu kauen.
Bild1: In der Wohnung unten rechts wohnt Ayano. Direkt neben dem Wohnhaus kann man das Dach eines winzigen Schreins erkennen.
Bild2: Der Rest des Wohnhauses und der große Baum. Es war eine sehr ruhige und idyllische Gegend.
Bild3. Die Katze, die regelmäßig zu Ayano zu Besuch kommt. Ich habe mich ein wenig mit ihr unterhalten.
Bild4: Ayano auf dem Boden vor einem Kuscheltier und der Packung mit der getrockneten Qualle. Woher sie das Kuscheltier habe, fragte ich sie, worauf sie lachend antwortete: "Von Tak.". "Tak schenkt dir Kuscheltiere?", fragte ich verdutzt, woraufhin Ayano mir lachend erzählte, dass Tak es von seiner Schwester erhalten hätte, als diese die Beziehung mit ihrem Freund beendet hätte. Und weil Tak damit nichts hatte anfangen können, hatte er es einfach weitergegeben, an Ayano. "Ich habe es von Tak, er von seiner Schwester und sie von ihrem Ex-Freund. Es ist wie ein Wanderpokal. Vielleicht sollte ich es an dich weitergeben.". "Und was soll ich dann damit?". Ayano lachte: "Schenk es jemand anderem."
Bild5: Ayano auf ihrem Bett. Im Hintergrund ihr Schreibtisch mit ihrem Computer.
Es dauerte nicht lange da widmeten wir uns anderen Dingen: Wir schauten uns am Computer Bilder von Ayanos Austauschjahr in Kanada an, ich zeigte ihr Fotos von meinem Ausflug nach Kyoto und vieles anderes. Bis zum späten Abend unterhielten wir uns, sprachen über Austauschjahre, japanische Sprache, schmierige Verteter und allerlei andere Themen, während uns die Katze neugierig durch das Gitter der Fliegentür beobachtete und interessiert lauschte. Es war schon spät, als Ayano mich schließlich nach draußen begleitete und wir gemeinsam durch die dunklen Straßen Sokas liefen, bis wir an einer Kreuzung ankamen, von der aus ich den Weg zurück zum Wohnheim kannte. Ein Weile unterhielten wir uns noch, dann verabschiedeten wir uns herzlich voneinander, das Verspechen gebend uns noch öfter zu treffen, um solch schöne Abende zu verbringen. Ein letztes Mal winkte ich ihr zu, dann lief ich in der warmen Sommerluft durch die dunklen Straßen Sokas zurück zum Wohnheim.
Bild6: Ein Versuch sich selbst zu fotografieren. Nicht das beste Foto, dafür aber eine Erinnerung an schönen Abend gemeinsam mit Ayano.
3 Kommentare:
Oh, hat die Katze auch einen Namen?
Ich finde, wenn es ein er ist, sieht er aus wie ein Lukas. Oder Luke.
was mir erst jetzt einfaellt: bezieht sich "stille beobachter" nur auf die jap. studenten oder auch auf luke?
"Luke" hat meines Wissens keinen Namen. Ich werde Ayano bei Gelegenheit aber einmal deinen Vorschlag unterbreiten.
Und der Titel "Stille Beobachter" bezog sich sowohl auf Lees Studenten, meinen wortkargen Sprachkurs, als auch auf die Kinder im Café und "Luke". Ja, manchmal bin ich wirklich erstaunt darüber, dass man einen ganzen Tag so treffend unter einem einzigen Titel bündeln kann.
Kommentar veröffentlichen