Ich konnte meinen Blick nicht recht von Ramon lösen. Irgendetwas fesselte mich an ihm, obwohl ich es nicht recht in Worte fassen konnte. Erst dachte ich, dass er mir ins Auge fiel, weil er doch ein wenig anders aussah, als die übrigen Japaner, schließlich kam er ursprünglich von den Philippinen und lebte erst seit einigen Jahren in Japan. Dann dachte ich, dass ich den Blick nicht abwenden konnte, weil er auf unerklärliche Weise etwas Kindliches an sich hatte. Er sah ein wenig aus wie ein Kind, das man in Designerkleidung gezwängt hatte, wie ein kleiner Junge, den die Eltern im Ballparadies bei Ikea vergessen hatten. Am liebsten hätte man ihm eine heiße Schokolade in die Hand gedrückt und seine Mama angerufen. Aus zusammengekniffenen Augen schaute ich Ramon eine Weile lang an, und lies meine Gedanken kreisen, bis mir endlich auffiel, warum ich ihn immer anstarren musste: Er sah fast genauso aus wie Max, einer meiner Freunde aus der Schulzeit, den ich nach dem Abitur allmählich aus den Augen verloren hatte. Ja, das war es. Deshalb musste ich ihn immerzu anstarren.
Wir saßen zu fünft im Freien und jeder aß stumm sein Mittagessen: Paul, Ramon, ein Japaner, Marvin und ich. Gemeinsam mit Marvin wollte ich heute nach dem Unterricht zum Friseur gehen und hatte mich deshalb dazu breitschlagen lassen gemeinsam mit ihm, Paul und zwei Freunden in der Mensa zu Mittag zu essen, ehe wir uns aufmachten. Ich kam mir ein wenig wie das fünfte Rad am Wagen vor, aber das ging wohl jedem so. Der Japaner aß still sein Mittagessen und ich beobachtete wie er absichtlich kleine Häppchen nahm und langsam kaute, um möglichst lange mit seinem Essen beschäftigt zu sein. Ich glaube außer einer kurzen Begrüßung und ein paar Worten des Abschieds hat er während der gesamten Zeit nichts gesagt. Ramon saß ebenso still da und schaute sich etwas unsicher um. Hin und wieder wechselte er ein paar Worte mit Marvin auf Japanisch, dass er auch Englisch sprechen konnte, erfuhr ich erst später. Und dann waren da Paul und Marvin, die sich ein wenig auf Deutsch austauschten. Doch da Ramon und der Japaner kein Wort Deutsch verstanden, wurde der Gebrauch der Fremdsprache auf das Minimum reduziert. Und so herrschte Stille. Gelegentlich durch ein wenig Smalltalk unterbrochen, aber größtenteils doch recht ungemütliche Stille. Hätte mich irgendjemand vorgestellt, wäre vielleicht ein Gespräch in Gang gekommen, aber ich saß einfach nur mit am Tisch und wollte nach den ersten fünf Minuten Stille nicht plötzlich anfangen von mir zu reden, mich nicht viel zu verspätet noch selbst vorstellen. Seltsame Freunde, dachte ich mir, als jeder für sich sein Mittagessen aß. Und damit meinte ich weniger Ramon und den Japaner als Person, als vielmehr die Beziehung zwischen ihnen und meinen deutschen Kommilitonen.
"Wir müssen dann auch gehen. Wir wollen noch zum Friseur.", verabschiede sich Marvin von Ramon und dem Japaner und verschwand mit Paul in der Mensa, um sein Tablett abzugeben. Und so entstand eine Situation, die mir gar nicht behagte: Ich musste mich alleine von Personen verabschieden, mit denen ich gar nichts zu tun hatte. Was sagt man da? Auf Wiedersehen? Es war nett euch kennenzulernen? Danke für das Mittagessen? Alles kam mir wie purer Hohn vor, hatte ich doch kaum ein Wort mit den beiden gewechselt, aber irgendetwas musste ich ja sagen: "Ich gehe dann Mal. Einen schönen Tag noch.". Das klang so gar nicht nach mir. Es klang kalt und desinteressiert, dennoch verabschiedeten sich Ramon und der Japaner mit einem freundlichen Lächeln. Aufgesetzt? Echt? Ich weiß es nicht. Ich nickte den beiden zu, griff mein Tablett und lief schnurstracks in die Mensa, um zu Paul und Marvin aufzuschließen. Ein wenig bedauerte ich es nicht mit Ramon gesprochen zu haben, eigentlich wirkte er ganz freundlich und aufgeschlossen, aber vielleicht sah ich auch immer nur Max vor mir sitzen.
"Woher kennst du Ramon und seinen Freund?"
"Keine Ahnung. Irgendwo getroffen. Was weiß ich."
Es klang ein wenig schroff und ich fragte mich für einen Moment was für eine seltsame Freundschaft die anderen wohl verband. Ob sie überhaupt eine Freundschaft verband. Vielleicht bin ich zu geizig mit der Benutzung des Wortes Freund, aber ich an Marvin und Pauls Stelle hätte Ramon und den Japaner im Vorhinein nicht als Freund angekündigt.
"Ich dachte ihr würdet euch gut kennen."
"Den Ramon haben wir letzte Woche bei irgendeinem Seminar getroffen, da hat er uns zum Essen eingeladen. Wer der andere Typ war, keine Ahnung. Den hab ich noch nie gesehen."
Und das war alles, was sie erzählten. Die ganze Geschichte. Und obwohl ich ihn gar nicht kannte, hatte ich ein wenig Mitleid mit Ramon, der sich sicher mehr erhofft hatte beim Essengehen. Letztlich hatte er wie alle nur stumm dagesessen. Freunde, dachte ich mir und zuckte mit den Schultern. Ich schien wirklich eine andere Benutzung für das Wort zu haben.
Manchmal frage ich mich, was die anderen wohl von mir denken. Ich gehe nicht mit ihnen auf Partys, aus Mangel an gemeinsamen Themen spreche ich oft über die Uni und ich kann nicht von Abenteuern mit Frauen, Trinkspielen oder irgendwelchem Tratsch berichten. Ob ich wohl einfach nur langweilig wirke, oder ob ich von den anderen einfach nur als anders aber nett empfunden werde? Ich mag keine Oberflächlichkeiten bei Unterhaltungen, keine Gespräche bei denen man nur spricht, um zu sprechen, keine Unterhaltungen, die einfach nur ziellos umherirrten, ohne jemandem auch nur irgendeinen Fortschritt oder eine Erkenntnis zu bringen. Und schon gar nicht mag ich das gegenseitige Schweigen bei Treffen, wie beim Mittagessen. Also unterhielt ich mich auf dem Weg zum Friseur auf meine Weise mit Marvin. Ich erzählte über mich: Anekdoten, die mich als Menschen kennzeichneten. Anfangs sprach ich erst einmal fast alleine, Marvin hörte zu und antwortete mit den üblichen Floskeln, den üblichen Oberflächlichkeiten, die man von sich gab, um zu sprechen, ohne wirklich etwas zu sagen. Doch irgendwann bekam unser Gespräch Substanz. Irgendwann merkte ich, dass nicht mehr nur ich von mir erzählte, sondern dass auch Marvin über sich sprach. Und am wichtigsten: Dass wir miteinander sprachen. Nur zu oft reden Personen, aber eigentlich spricht jeder für sich.
"Ich habe mich im Schwimmkurs nie getraut einen Köpfer vom Drei-Meter-Brett zu machen. Ich fand es unfair, dass man maximal eine drei erreichen konnte, wenn man nicht mit einem Köpfer heruntergesprungen ist."
"Ja, ich mochte Schwimmunterricht auch nicht. Ich konnte nicht wirklich schwimmen und hatte Angst vorm Wasser, aber das kümmert Lehrer ja nicht. Ich habe es gehasst."
Und so unterhielten wir uns, während wir quer durch Soka liefen. Und ein wenig lernte ich Marvin kennen, den Menschen.
Ich kann nicht sagen, dass ich bei meinem ersten Friseurbesuch in Japan sehr positive Erinnerungen gesammelt hätte: Ich war ziemlich überfordert, konnte mich nicht wirklich verständigen und verließ letzten Endes recht verstört das Geschäft ("Abenteuer beim Friseur"). Diesmal sollte aber alles besser werden, deswegen hatte ich mich nicht nur nach Marvins Friseur erkundigt, sondern war ihm gleich in sein Stammgeschäft gefolgt. Und es zahlte sich aus: Der Friseurbesuch war weitaus angenehmer als mein Abenteuer zu Beginn des Jahres. Freudig wurden wir begrüßt und angehalten Platz zu nehmen. Auf die Frage wie ich meine Haare geschnitten haben wollte, druckste ich wie gewohnt ein wenig unentschlossen herum und bekam sogleich eine Karte mit verschiedenen aktuellen Frisuren in die Hand gedrückt. Eine gute Idee, musste ich zugeben und wählte unter den Haarmodellen meine beiden Favoriten aus. "Etwa so." murmelte ich und fuhr mit meinem Zeigefinger beständig zwischen zwei Bildern hin und her. Und damit war es auch schon fast getan. Die junge Dame begann munter zu schneiden und stellte zwischendurch nur ein paar simple Fragen, auf die ich stets problemlos antworten konnte. Jegliche Spur von Unbehagen war verschwunden, es lief glatt. Der einzige Wermutstropfen, den ich bei meinem Besuch vergoss, war mein Mangel an Ausdrücken zur Bestätigung. Denn nach den üblichen Antworten wie "Das ist in Ordnung.", "Okay." und "Ja, bitte." war mein Repertoire an japanischen Bejahungen erschöpft und ich musste wieder von vorne beginnen. Das hört sich nicht weiter schlimm an, dennoch nagte es ein wenig an mir. Manchmal hätte ich gerne Dinge eingeworfen, wie ich es aus Deutschland gewohnt war. Ein kurzes "Das sieht gut aus." oder ein "Genau so.", aber ich war mir zu unsicher, was ich sagen sollte, darum sagte ich lieber nichts. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf meine Mimik spielen zu lassen: Ich lächelte und nickte so viel ich nur konnte.
Es dauerte nicht lange, da war die junge Frau fertig und ich wurde zur Kasse geführt. Noch ehe ich mein Portemonnaie zücken konnte, fiel der Kassierer mit einem Wedel über mich her und entfernte alle Haare, die möglicherweise auf meine Kleidung hätten gelangen können. Ich war ein wenig erschrocken, denn so etwas war ich nicht gewohnt, doch ich fing mich schnell, ließ das Wedeln über mich ergehen und bedankte mich angemessen, ehe ich dann endlich bezahlen durfte. Eigentlich hatte ich mir einen Satz zurechtgelegt, um zu fragen, ob ich wohl auf einem der Stühle am Eingang Platz nehmen könne, bis auch Marvin fertig wäre, doch der Kassierer kam mir zuvor und bot mir einen Platz an, den ich dankbar annahm. Zehn Minuten lang schaute ich mir das kleine Tischchen mit Werbeprodukten an, das vor mir stand und versuchte wenig erfolgreich japanische Hinweise zur Haarpflege und Angaben zu Inhaltsstoffen zu lesen, bis schließlich auch Marvin fertig war. Nachdem auch er abgewedelt wurde und bezahlt hatte, wurden wir lauthals vom gesamten Laden verabschiedet und nach draußen geführt. Wir nahmen unsere Regenschirme, die wir wegen des bewölkten Himmels mitgenommen hatten, an uns und liefen zurück zum Wohnheim. Ein voller Erfolg.
Auf dem Rückweg konnten wir uns ausgiebig über unseren gemeinsamen Besuch beim Friseur austauschen, etwas das wir zusammen erlebt hatten. Es waren eben jene Minuten, in denen mir bewusst wurde wie unterschiedlich Paul und Marvin waren. Marvin strahlte viel mehr Positivität, viel mehr Herzlichkeit aus und ich genoss es mich mit ihm zu unterhalten. Wir kannten uns schon seit Monaten, doch wirklich unterhalten hatten wir uns noch nicht zuvor. Und so liefen wir in ein Gespräch vertieft zum Wohnheim. Als Freund würde ich Marvin nicht bezeichnen, dazu sind meine Ansprüche an Freundschaft zu hoch, aber ich habe doch das Gefühl, dass wir heute einen Schritt aufeinander zugekommen sind, unsere Gespräche einen Tick gehaltvoller geworden sind, man angefangen hat etwas von sich zu zeigen. Und auch wenn ich in ihm noch keinen Freund gefunden habe, so doch einen guten Bekannten, der mir sicher in Erinnerung bleiben wird.
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