Es begann mit dem ersten Wort auf dem Testbogen. Ich wusste die Lesung des unterstrichenen Wortes, aber ich war mir sicher, dass das Wort nicht in der Liste der Schriftzeichen gestanden hatte, die wir für den heutigen Test hatten vorbereiten müssen. Das war nämlich etwas worauf man sich immer hatte verlassen können: Ganz egal wie viel Lernstoff es für einen Test zu geben schien, er war immer begrenzt auf jene Worte, jene Grammatik und jene Texte, die in den Lektionen, die im Test abgeprüft wurden, behandelt worden waren. Anders wäre das Lernpensum auch gar nicht zu bewältigen gewesen, denn bei dem rasanten Unterrichtstempo hatte man wöchentlich bereits fünf Seiten reinen Text, mit rund dreißig neuen grammatischen Regeln und etwa einhundert neuen Vokabeln, mitunter aufgebaut aus gänzlich neuen Schriftzeichen, zu lernen. Natürlich versuchte man sich den Lernstoff der vorangehenden Lektionen so gut wie nur möglich zu behalten, aber man ist eben keine Maschine. Und so war es ganz natürlich, dass Grammatik und Wörter, die man nicht benutzte und die nirgends wieder auftauchten unweigerlich in Vergessenheit versanken. Nun, zumindest bis zum heutigen Test, in dem bereits in der ersten Seite ein Medley aus Vokabeln der letzten Lektionen abgefragt wurde.
Zugegeben ich bin ein fleißiger Student und mag meine japanischen Schriftzeichen, darum hatte ich kaum Schwierigkeiten mit dem unerwarteten Prüfungsteil, doch ein wenig unverschämt fand ich es schon, dass Frau Nakanishi vollkommen unangekündigt die Studenten aus ihrer Reserve lockte. Für einige war das Aufsteigen in den nächsten Kurs schließlich von den Noten in den Zwischentests abhängig, weshalb ein einmaliges Versagen mitunter fatale Folgen haben konnte. Aber ich wollte aus einer Mücke keinen Elefanten machen, gab meinen Bogen zu den Schriftzeichen an die Prüfungsaufsicht und nahm die Aufgaben zum Text- und Grammatikverständnis entgegen.
Meist habe ich keine großen Schwierigkeiten beim Textverständnis, denn ich verstehe recht genau worum es in den behandelten Texten geht. Problematisch sind für mich eher die Fragestellungen und Antwortmöglichkeiten, aus denen man auswählen muss, da ich oft das Gefühl habe, dass keine der vorgeschlagenen Antworten exakt auf den Inhalt des Textes passt. Aber ich hatte mich dennoch an diese Form der Prüfung gewöhnt und wunderte mich, als ich nicht wie gewohnt einige Antwortmöglichkeiten fand, sondern einen Lückentext. "Nun gut", dachte ich mir, "Das ist mal etwas anderes. Problematisch dürfte es nicht werden.". Aber wie weit hatte ich gefehlt. Der Lückentext war so unverständlich dass ich fast eine Viertelstunde vor den fünf Textzeilen saß und versuchte die Lücken zwischen Subjekten, Verben und Konjunktionen mit sinnvollem Inhalt zu füllen. Und auch wenn ich einen Geistesblitz hatte und wusste was in eine Lücke gehörte, wurde mein Tatendrang durch ein dickgedrucktes Wort in der Aufgabenstellung unterdrückt: Die Lücken mit eigenen Worte füllen. Eigene Worte. Das kann man vielleicht in seiner Muttersprache, aber kaum beim Erlernen einer fremden Sprache, da ist man zufrieden wenn man mit Bestimmtheit einen korrekte Satz auf die Beine stellt. Mit eigenen Worten. Ich schüttelte den Kopf und drehte und wendete das Vokabular aus dem Lektionstext und suchte in Gedanken nach Synonymen.
Nach dem Bearbeiten des ersten Textes, wendete ich mich zum zweiten Text. Zumindest dachte ich das, als ich zweiten Text sah und ohne ihn anzuschauen erst einmal die Aufgabenstellung durchlas. "Moment", fuhr es mir durch den Kopf, "Diese Aufgaben passen gar nicht zu dem Text, der jetzt kommen müsste.". Und tatsächlich: Frau Nakanishi hatte zwischen den regulären Prüfungstexten noch einen vollkommen unbekannten Text eingefügt, den wir niemals zuvor gesehen hatten. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich bewaffnet mit dem Vokabular in meinem Kopf an das Erarbeiten des neuen Textes zu machen. Zwar war der Text thematisch an die behandelten Lektionen angelehnt, dennoch war er viel zu schwer und ich konnte mit einem Drittel der Vokabeln nichts anfangen. Zugegeben, die Satzstrukturen waren verhältnismäßig simpel und man konnte sich nach einigem Kopfzerbrechen in groben Umrissen erarbeiten worum es in dem Text ging, aber diese Zeit hatte man normalerweise während einer Prüfung nicht. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass ich bereits viel zu viel Zeit verschwendet hatte und so hetzte ich so schnell ich konnte durch den Test. Für gewöhnlich gab ich meine Test eine halbe Stunde vor dem Ende der Prüfungszeit ab, wie die meisten anderen auch, heute saßen aber alle bis zum Ende und darüber hinaus im Raum. Ich schrieb bis in die Pause hinein und gab meinen Test erst kurz vor Beginn der nächsten Stunde ab, Zeit um noch einmal alles zu überprüfen hatte ich nicht mehr.
Da der Test von Frau Nakanishi entworfen worden war, wir Donnerstags aber Herrn Ikuta in den ersten Unterrichtsstunden als Lehrer haben, musste auch er die Konversationsprüfungen abhalten, die sie sich für uns überlegt hatte. Einerseits musste Herr Ikuta somit die Prüfung abhalten, auch wenn die Studenten offensichtlich mit den Übungen zu kämpfen hatten, andererseits hatte er keine Ahnung in welchen Paaren wir zur Prüfung hätten kommen müssen. Und so erlaubte er uns vor Beginn der Prüfung in beliebigen Zweiergruppen zur Prüfung zu erscheinen, was dazu führte, dass ich mir sofort Nikki schnappte und Ma, dem ich am letzte Freitag zugeteilt worden war ("Freitags vom Montag lernen"), alleine sitzen lies.
Nervös saß ich somit gemeinsam mit Nikki in der Prüfung und stumm schauten wir auf unsere Aufgaben. Wo gewöhnlich ein kleines Rollenspiel mit einigen Angaben notiert war, hatte Frau Nakanishi ein DIN A4-Blatt mit Anweisungen zu einem mehrminütigen Dialog beschrieben. ich verstand nicht wirklich alles, doch ich war zu schüchtern, um Herrn Ikuta um Rat zu fragen, wusste ich doch, dass ich seine Antwort ohnehin nicht verstanden hätte. Auf Englisch wollte ich Nikki auch nicht fragen, schließlich war es eine Konversationsprüfung für Japanisch, da kam es nicht gut, wenn man sich auf Englisch austauschte. Zudem saß Nikki selbst wie ein Häuflein Elend vor dem Zettel und schien nicht so recht zu wissen, was sie machen sollte. Nachdem Herr Ikuta uns dreimal aufgefordert hatte zu beginnen, blieb uns nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und irgendetwas zu reden. Daran wie Nikki durch den Dialog sprang, wurde mir klar, dass sie noch weniger verstanden hatte als ich und ich kam ins Schleudern, um halbwegs jene Ausdrücke einzubauen, sie gefordert waren. Immer wieder blieben wir für einige Momente hängen und mussten von neuem auf das Blatt schauen, der Dialog war einfach zu umfangreich. Irgendwann war der Terror dann aber vorüber und erleichtert liefen Nikki und ich zurück zur Prüfung, unterwegs ließen wir uns über den Test aus: Die unbekannten Schriftzeichen, die komplizierten Aufgaben, die unbekannten Texte und den ellenlange Dialog. Viel brachte es uns aber nicht, wir mussten durch diesen Test, so oder so.
Nachdem ich mittags gemeinsam mit Cassy, Riku, Nikki und einem chinesischen Mädchen in der Mensa gegessen hatte, bereiteten wir uns vor, der Wurzel allen Übels persönlich entgegenzutreten. Gewohnt adrett gekleidet und mit ihrem makellosen Lächeln kam Frau Nakanishi in den Raum stolziert und begrüßte uns geradezu hämisch mit einer Frage nach dem Test am Vormittag. Doch keiner traute sich ihr gegenüber etwas Negatives zu sagen und so grummelte der Kurs nur vor sich hin. "Ich denke sie sind überrascht, was sie bereits alles bearbeiten können mit ihrem breiten Fundament an Japanisch.", strahlte uns Frau Nakanishi an und ließ einen Stapel Blätter auf den Tisch fallen, "Und darum habe ich ihnen diesen Text vorbereitet. Sehen sie es als eine Prüfung für sich selbst an. Sie haben dreißig Minuten zum Bearbeiten des Textes.". Und mit diesen Worten schritt sie durch den Saal, verteilte die Bögen und verließ den Raum. Keiner wusste wann sie wiederkommen würde, weshalb trotz Abwesenheit des Lehrers Totenstille herrschte. Jeder saß mit seinem Wörterbuch an seinem Platz und übersetzte den Text für sich, um alle Fragen, die Frau Nakanishi an uns hätte richten können, beantworten zu können. Ich merkte wie Paul und Marvin strauchelten und hörte immer wieder vereinzeltes Aufstöhnen und leises Fluchen, kam aber selbst ohne Probleme durch den Text. Nachdem ich nach zwanzig Minuten den Text komplett durchgearbeitet hatte und alles glaubte verstanden zu haben, schaute ich einen Moment lang um mich herum, sah die anderen noch eifrig arbeiten und las den Text noch ein weiteres Mal durch, ehe ich die letzte Minute entspannt aus dem Fenster sah. Ich fühlte mich gewappnet für jede Frage die kommen könnte. Letztlich kam Frau Nakanishi zurück und sammelte die Zettel wieder ein. Als sie meinen Zettel an sich nahm, warf sie einen Blick darauf, blickte mich mit ihrem makellosen Lächeln an und fragte warum ich keine der Fragen beantwortet hätte. "Fragen?", fuhr es mir durch den Kopf und erst jetzt sah ich, dass am Ende des Textes drei simple Fragen notiert waren. "Da müssen sie wohl noch viel mehr lernen.", lächelte Frau Nakanishi mich an und lief weiter, ehe ich irgendetwas erwidern konnte. "Sie sehen, was sie schon alles bearbeiten können.", verkündete Frau Nakanishi, als sie wieder am Lehrpult stand und triumphierend die Zettel in die Höhe hielt. "Oder sie sehen wo sie sich noch verbessern müssen. Wo sie noch mehr studieren müssen.". Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mich anblickte. "Eine einzige kleine Prüfung wie diese bringt alles ans Licht.". Und dann begann sie mit dem Unterricht.
4 Kommentare:
Ich finde es sehr bezeichnend, dass du schreibst: "Zugegeben ich [...] mag meine [!!!!!] japanischen Schriftzeichen" *g*
Frau Nakanishi finde ich echt beeindruckend. Sie hat irgendwie eine ungeheure Präsenz, die den Raum füllt. Und selbst, wenn sie selbst nicht mehr im Raum ist, ist sie trotzdem noch präsent. Jeder arbeitet für sich und hat Angst, dass sie wiederkommt. Das wuerde sicher nicht bei jedem Lehrer funktionieren.
Frau Nakanishi machte einen erste Eindruck, der Spuren hinterlassen hat. Ich habe mich oft gefragt, ob wir wohl auch so viel Respekt vor ihr gehabt hätten, wenn sie am ersten Tag zu spät gekommen wäre, ihr Buch vergessen hätte und hin und wieder ein wenig Unsicherheit hätte durchschimmern lassen.
Doch so hält ihre Aura schon ein halbes Semester lang an. Und vermutlich auch noch länger.
Und ja, es sind meine Schriftzeichen. Es gibt nicht viel Menschen hier, die sie haben wollen und sie mir streitig machen würden.
Ohje, ist das nicht genau der Alptraum, den man hat? Man schreibt eine Prüfung und übersieht die Aufgabenstellung. Naja, zum Glück zählt der Test ja nicht.
Und für den richtigen Test hoffe ich, dass er trotzdem gut für dich ausgeht. War das denn die erste Prüfung bei dieser Lehrerin? Denn wenn all ihre Klausuren so schwer bleiben, wäre das wohl äußerst unangenehm ;-)
Glücklicherweise wurde es nicht bewertet, aber ich glaube Frau Nakanishi neigt dazu immer spontan Prüfungen zu machen. Erst letztens ließ sie uns die ganze Stunde über irgendwelche Texte und Fragestellungen in Stillarbeit bearbeiten.
Und dann, in der letzten Viertelstunde, mussten wir noch schnell einen Aufsatz schreiben, der dann auch bewertet wurde.
"Zwanzig Sätze genügen.", hat sie gesagt, doch ich glaube kaum jemand hat mehr als zehn hinbekommen. Und das war schon mehr als eine halbe Seite auf Japanisch. Ich bin mal gespannt was da herauskommt...
Kommentar veröffentlichen