Montag, 29. Juni 2009

Ein Sommernachts-Fiebertraum

Am Abend meines 269. Tages in Japan fing es an. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere und konnte nicht wirklich einschlafen, weil ich Kopfschmerzen hatte. Vielleicht ist es zu stickig, dachte ich mir, öffnete trotz Schwüle die Balkontür und legte mich wieder hin. Die Kopfschmerzen gingen nicht weg, stattdessen trieb mich der Lärm der Autos, das Zirpen der Grillen und die Stimmen von Menschen aus der Umgebung in den Wahnsinn. Es war drückend schwül und heiß, alles klebte und auch wenn ich ohne Decke auf meinem Bett lag, hatte ich das Gefühl zu glühen. Und so lag ich bis tief in die Nacht hinein in meinem Zimmer und fand keinen Schlaf. Ich war zu erschöpft und ausgelaugt, um zu lesen, einen Film zu sehen oder Musik zu hören, doch ich war zu wach, um einzuschlafen. Im Dämmerschlaf döste ich vor mich hin, jeder Laut von draußen erschien mir so laut wie ein Schlag auf den Amboss, jede noch so kleine Brise wie ein Moment im Paradies. Und irgendwann muss ich dann doch noch eingeschlafen sein.
Am nächsten Morgen weckte mich das Piepsen des Weckers. Eigentlich ungewöhnlich, denn aus Gewohnheit werde ich immer wenige Augenblicke vor dem unerträglichen Piepsen wach und habe genug Zeit den Wecker rechtzeitig auszuschalten. Ich war so müde und ausgelaugt, wie schon lange nicht mehr. Es war ein mühevoller Kampf meine bleiernen Gliedmaße zu erheben, obwohl es für mich sonst nie ein Problem gewesen war morgens mit einem Satz aus dem Bett zu springen, wenn ich denn wollte. Statt mich nach dem Schlaf erfrischt zu fühlen, hatte ich das Gefühl die ganze Nacht über Ausdauersport getrieben zu haben. Ich war verschwitzt und ausgelaugt und als ich zur Dusche lief, wäre ich beinahe erst einmal umgekippt, weil sich alles in meinem Kopf dreht.
Es bedurfte keinen Experten um festzustellen, dass ich krank wurde. Und so hätte wohl jeder gesagt, dass ich den Tag zu Hause hätte verbringen sollen, denn sechs Stunden lang in der Uni zu sitzen, Denkarbeit zu leisten und durch die Gegend zu laufen, klang nicht sehr gesundheitsfördernd. Doch wenn es ums Kranksein geht, bin ich sehr eigen: Ich bleibe dem Unterricht nämlich fast nie fern. Bei mir sitzt die Hemmschwelle zu sagen, dass ich krank bin, sehr viel höher als bei den meisten anderen Menschen, was dazu führt, dass ich mich häufig als angeschlagen oder erkältet bezeichne, wenn es mir nicht gut geht. Und das ist dann kein Haarspalterei bei der Begriffswahl, sondern meine eigene Einschätzung, denn solange ich noch in die Universität laufen kann und am Unterricht teilnehme, empfinde ich mich nicht als krank. Wenn andere wegen einer Erkältung, leichter Halsschmerzen, einem leichten Anfall von Übelkeit oder Schmerzen in der Hand zu Hause bleiben, laufe ich noch immer in die Schule und arbeite wie gewohnt mit. Ich trinke dann etwas mehr, benutze öfter die Toilette, putze mir des Öfteren die Nase und stütze häufig meinen Kopf ab, aber krank bin ich nicht. Eben nur angeschlagen. Und nur wenn es mir wirklich elend geht, wenn ich das Gefühl habe mich jeden Moment übergeben zu müssen, wenn ich Schwierigkeiten habe zu laufen, meine Feinmotorik zu steuern oder aufrecht zu sitzen, wenn ich also zu der Überzeugung gelange, dass es keinen Sinn hat in die Universität zu gehen, weil ich mit meiner momentanen, körperlichen Verfassung ohnehin nicht im Stande bin zu lernen, erst dann bleibe ich zu Hause, liege mit guten Gewissen in Bett und bin krank.
Am Montagmorgen stand ich an der Grenze: Meine Kopfschmerzen vom Vorabend waren verschwunden, aber mein Kopf drehte sich und mein Körper bewegte sich nur träge wie ein Mehlsack. Ich hätte zu Hause bleiben können, war aber noch im Stande in die Uni zu gehen. Und so entschied ich mich dazu den Stundenplan über meinen heutigen Tagesverlauf entscheiden zu lassen. In der zweiten Stunde stand etwas von einem Aufsatz und ich war mir unsicher, ob wir nur irgendetwas zu bearbeiten hatten oder eignen eigenen Text verfassen sollten. Würden wir einen eigenen Text verfassen müssen, war dies nämlich gleichbedeutend mit einem bewerteten Test, der bei Abwesenheit mit null Punkten bewertet werden würde. In der dritten Stunde besprachen wir einen neuen Text, was bei Frau Kitamura eigentlich immer sehr sinnvoll war. Und so entschied der Stundenplan für mich, dass heute ein Tag war, an dem man besser in den Unterricht gehen sollte. Hätte ich heute einen weniger engagierten Lehrer und mit Sicherheit keinen Test gehabt, ich wäre wohl zu Hause geblieben und hätte mich einen Tag lang auskuriert, doch so packte ich meine Sachen, machte mich zurecht und trat motiviert hinaus in den morgendlichen Sonnenschein und lief frohen Mutes zur Dokkyo-Universität.
Meine Vermutung bestätigte sich, als wir die gesamte zweite Stunde über Zeit hatten, um einen mindestens einseitigen Aufsatz zu verfassen. Und so schrieb ich und hatte zu meiner Überraschung den ganzen Vormittag keine Beschwerden. Ich hatte fast schon vergessen, dass ich am Morgen noch mit dem Gedanken gespielt hatte zu Hause zu bleiben, und musste ein wenig über mich selbst den Kopf schütteln: Wie hatte ich mich nur so krank fühlen können? Ein wenig flau war mir im Magen, aber das lag daran, dass ich am Morgen nichts zu Frühstück gegessen hatte. Darum aß ich in der Mittagspause mit den anderen in der Mensa und verbrachte die restliche Zeit bis zum Beginn des Nachmittagsunterrichts im Lehrsaal. Und während ich entspannt auf meinem Stuhl saß und wartete, schwappte das Elend vom Morgen wieder zurück. Ich merkte es erst kaum, doch als ich begann den neuen Text im Nachmittagsunterricht zu bearbeiten, fiel mir auf, dass ich nichts auf die Reihe bekam. Ich schaute den Text an und verstand nichts. Ich las die Worte, sah die Schriftzeichen, sprach Sätze aus und sah zwischen nichts von alledem einen Zusammenhang. Mein Kopf war nicht im Stande zu verarbeiten, was sich auf dem Blatt befand, geschweige denn was Frau Kitamura erzählte. Er war ein Topf voller Watte, zum Bersten gefüllt. Ich konnte es körperlich fühlen, dass nichts mehr hinein passte. Darum stützte ich meinen Kopf auf beiden Armen ab, blickte von oben auf den Text herab und sammelte all meine Konzentration, um ganz langsam einen einzelnen Satz, Bestandteil für Bestandteil, durchzugehen. Und als ich dann endlich den Inhalt begriffen hatte, musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass Frau Kitamura bereits den nächsten Absatz bearbeitete. Ich musste fast drei Minuten lang unentwegt auf einen einzelnen, simplen Satz geblickt haben. Und so zog der Unterricht an mir vorbei, ohne dass ich irgendetwas verstanden hätte, ohne dass ich auch nur eine Frage von Frau Kitamura hätte beantworten können. Stattdessen saß ich schwitzend auf meinem Stuhl, mein Kopf dreht sich und die Stimmen des Lehrers und einiger schwatzender Kommilitonen dröhnten in meinem Kopf.
Benebelt torkelte ich nach dem Unterricht zum Wohnheim, fiel wie ein Stein in mein Bett und schlief über drei Stunden lang. Als ich am späten Nachmittag die Augen öffnete, ging es mir wie am Morgen: Ich war erschöpfter als vor dem Schlaf. Verschwitzt und mit dröhnendem Kopf lag ich auf dem Bett, die Kleidung klebte an mir und ich konnte nicht sagen, ob die drückende Hitze im Raum daher rührte, dass ich nach meiner Heimkehr vergessen hatte die Klimaanlage anzuschalten, oder einfach Fieber war. Vermutlich beides. Ich hatte Mühe mich auf den Beinen zu halten, konnte mich auf nichts mehr konzentrieren und hatte das Gefühl, das mein Kopf jeden Moment zerbersten würde. Im Delirium bereitete ich mir am Abend mein Essen zu, duschte und legte mich schließlich ins Bett, doch Schlaf fand ich keinen. Es waren die Kopfschmerzen, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen: Das Zirpen der Grillen klang für mich wie ein Presslufthammer, die vorbeifahrenden Autos wie startende Flugzeuge und mein Kissen war hart wie ein Stein. Ich vergrub mich darin, um Ruhe zu haben und die Kopfschmerzen zu ersticken, warf die Decke von mir, um Kühlung zu bekommen, konnte letztlich aber nicht einschlafen. Und als ich letztlich doch die Augen schloss und schlief, schien mein Verstand dies gar nicht zu realisieren, es war mehr wie ein Blinzeln und plötzlich stand die Sonne am Himmel. Nur ein kurzes, aber ein sehr anstrengendes, erschöpfendes Blinzeln.
Am nächsten Morgen stand ich auf, mir blieb nichts anderes übrig. In der ersten Stunde schrieben wir einen Test und ich wollte meine Gesamtnote nicht riskieren, indem ich der Prüfung fernblieb und null Punkte eingetragen bekommen würde. Ich lag länger als sonst in meinem Bett, ehe ich es endlich schaffte mich aus der Decke zu winden und in die Dusche zu schlurfen. Teilnahmslos stand ich unter dem Duschstrahl, ließ mich berieseln und dachte nicht einmal nach. Für wenige Minuten war ich einfach nur eine leere Hülle, unfähig mich zu bewegen, zu denken, zu reagieren, dann schlurfte ich tropfend aus der kleinen Nasszelle, packte das Nötigste für den Unterricht zusammen und lief zur Universität.
"Du siehst ziemlich erschöpft aus."
Nikki betrachtete mich ein wenig besorgt, als ich halbabwesend vor ihr saß. Und sie hatte recht. Ich war so ausgelaugt und kraftlos, dass ich am liebsten über dem kleinen Tisch zusammengebrochen und liegengeblieben wäre.
"Aus organisatorischen Gründen wird der Test heute auf die zweite Unterrichtsstunde verschoben."
Na toll, dachte ich mir und blickte aus glasigen Augen träge um mich. Und so kam es dazu, dass ich heute zu einem der Zombies wurde, wie Frau Takeda immer zu sagen pflegte. Ich saß teilnahmslos da, zeigte keine Reaktion, konnte keine Fragen beantworten und las nur stockend und fehlerhaft meinen Textteil vor. Frau Takeda blickte ein wenig besorgt, sagte aber während der Unterrichtszeit nichts. Und so hing ich die erste Stunde auf meinem Stuhl, versuchte das Drehen und Dröhnen zu ignorieren und mich auf den Text zu konzentrieren. Natürlich vergebens. Wie am Vortag konnte ich die Schriftzeichen auf dem Blatt vor mir in keinen Zusammenhang bringen. Sie tanzten in meinem Kopf umher und flohen lachend, wenn ich versuchte sie zu greifen. Wenn ich mich nicht ausreichend auf einen Punkt konzentrierte, begann alles zu verschwimmen und milchig zu werden, als würde man durch eine beschlagene Scheibe sehen. Mein Mund war trocken, weil ich vergessen hatte etwas zu trinken, mein Magen knurrte, aber es schien mich gar nicht zu kümmern, mein Körper hatte derzeit erbittertere Kämpfe auszutragen.
Als die erste Stunde endete und meine Kommilitonen den Raum verließen, um in die Mensa, aufs Klo oder in eine Stille Ecke zum Rauchen zu gehen, kam Frau Takeda vor dem Verlassen des Raumes an meinem Tisch und blickte mich besorgt an.
"Sie sehen heute gar nicht gut aus. Sie sind wohl nur wegen des Tests gekommen."
Ich nickte und versuchte tapfer zu lächeln. Da öffnete Frau Takeda ihre Handtasche, kramte ein wenig darin herum und reichte mir ein Hustenbonbon.
"Das ist leider das Einzige, was ich bei mir habe. Vielleicht hilft es Ihnen ja den Test zu meistern."
Dankbar nahm ich das Bonbon an und mit einem Lächeln verabschiedete sich Frau Takeda und lief beladen mit ihrem Gepäck, aber dennoch vergnügt wie immer aus dem Raum. Ich saß auf meinem Platz, blickte eine Weile lang auf das Bonbon, bis ich es schließlich auspackte und in den Mund steckte.
Obwohl ich auch in den kommenden Stunden nicht auf der Höhe war, lief der Test doch erstaunlich gut. Man könnte fast meinen, dass er mir sogar leichter fiel, als die Prüfungen, die ich gesund absolviert hatte. Sobald ich den Raum mit Marvin und Paul verlassen hatte, meldete ich mich bei ihnen für den Nachmittagsunterricht und den nächsten Tag ab, was diese mit einem erstaunten Blick quittierten.
"Ne, echt? Du gehst mal nicht in den Unterricht?"
"Hast du dir das auch gut überlegt?"
Ein wenig spotteten die beiden, doch ich wusste genau weshalb sie es taten, schließlich hatte ich bisher keine einzige Unterrichtsstunde verpasst. Ich wusste wann meine Grenze erreicht war und ich gut daran tat im Bett liegen zu bleiben. Und diese Grenze hatte ich bereits am Morgen überschritten. Müde und kraftlos schleppte ich mich zum Wohnheim, zwang mich ein wenig zu essen und trinken und fiel schließlich in mein Bett. Mit Kopfschmerzen und Schwindel blickte ich an die Decke und realisierte, dass ich seit langer, langer Zeit wieder einmal wirklich krank war.

2 Kommentare:

michi hat gesagt…

schoen, dass lehrer wie sie doch noch nicht resigniert haben, ihre schuetzlinge doch noch beobachten, sich um sie sorgen machen und ihr letztes bon bon opfern ;) ich denke das ist nicht selbstverstaendlich, oder?
deswegen meintest du also letztens, dass du ne ganze woche krank warst. ojeoje. naja zum gute besserung wuenschen ist es ja jetzt zu spaet.

David Kraft hat gesagt…

Jetzt bin ich ja wieder auf dem Damm. Aber es war damals eine Woche, in der nicht wirklich viel los war. Da litt das Blog, meine universitäre Leistung und auch skype.

Und Frau Takeda ist wirklich ein herzensguter Mensch. Ich glaube jeder möchte einmal so werden, wenn er in die Jahre kommt: lebensfroh, lustig, hilfsbereit und neugierig. Und sie hat sich bis in ihr Alter ihr inneres Kind bewahrt.