Nach wochenlanger Planung war es endlich soweit: Heute Abend sollte ich mit dem Nachtbus endlich nach Kyoto fahren. Und darum verbrachte ich den Nachmittag damit die Wäsche zu machen, zu kochen und abspülen, den Akku der Kamera aufzuladen, zu duschen, meinen Rucksack gemäß der Wettervorhersage zu packen und natürlich damit Proviant für die Reise zu kaufen. Aber obwohl Dominic und ich bereits den ganzen Tag über mit Vorbereitungen beschäftigt gewesen waren und wir uns entspannt hätten zurücklehnen können, war die letzte halbe Stunde vor dem Verlassen der Wohnung doch sehr chaotisch: Der Eine räumte schnell noch einmal alles von der Tüte in den Rucksack, während der Andere fünfmal überprüfte, ob Geld, Ausweis und Überweisungsbestätigung auch wirklich griffbereit verstaut waren. Und als wir dann endlich aus der Tür traten und eine Weile gelaufen waren, fiel mir doch tatsächlich auf, dass wir die Tüte mit unserem Proviant vergessen hatten. Also rannte ich noch einmal zurück und schnappte mir die Tasche, ehe wir zum Bahnhof von Soka hetzten.
Da die überfüllten Bahnen zur Abendzeit nicht für Reisende mit Gepäck geeignet sind, entpuppte sich unsere Fahrt zum Bahnhof von Shinjuku, an dem wir mit dem Nachtbus abfahren sollten, als Tortur. Eingequetscht zwischen Geschäftsmännern und Japanern, die nach Hause oder zu einer Abendvergnügung fuhren, versuchten wir die ganze Fahrt über niemanden mit unseren prall gefüllten Rucksäcken umzuhauen. Fast eine Stunde fuhren wir so, bis wir endlich im großen Bahnhof von Shinjuku ankamen, wo wir uns mit Ninja am Ostausgang verabredet hatten. Doch wo sollte der sein? Über mehrere Stockwerke eilten wir mit unserem Gepäck durch die Menschenmassen und konnten letztlich doch keinen Ostausgang finden. Doch glücklicherweise war dies auch gar nicht nötig, da wir zufälligerweise über Ninja stolperten, als wir auf der Suche nach einer Übersichtskarte vor dem Bahnhof umherirrten. Gemeinsam machten wir uns auf die Suche nach dem Abfahrtsplatz, den wir nach einer weiteren halben Stunde schließlich einer unauffällige Straßenecke zuordneten, an der weder ein Schild stand, noch eine Person wartete. Nun, dies war auch nicht verwunderlich, schließlich hatten wir noch knapp eine Stunde Zeit, bis wir uns dort versammeln sollten, und so überlegten wir, wie wir diese Zeit füllen könnten. Da Ninja noch etwas Essen wollte, liefen wir eine Weile durch das nächtliche Shinjuku, ehe wir einen traditionell japanischen Schnellimbiss fanden, in dem wir uns niederließen. Zugegebenermaßen fühlte ich mich ziemlich unwohl, da ich noch nie zuvor dermaßen auffällig angestarrt wurde, was maßgeblich daran lag, dass drei Ausländer, die mit Gepäck beladen durch ein enges Geschäft trampelten und offensichtlich so gar keine Ahnung davon hatten, wie alles funktioniert, zum Anstarren einluden. Ich verkniff mir anzumerken, dass sich Ninja und Dominic an einen Tresen gesetzt hatten, der offensichtlich nicht besetzt war, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, und setzte mich mit roten Kopf dazu. Eigentlich hatte ich gar keinen Hunger. Da es mir aber peinlich gewesen wäre, wenn nach unserer Aufsehen erregenden Ankunft von den drei Personen nur eine etwas gegessen hätte, bestellte ich für Dominic und mich einen Salat, um die Zeit zu überbrücken. Nach dem Salat und ein wenig Smalltalk war schließlich die Zeit zum Aufbruch gekommen und so bezahlten wir, schnappten uns unser Gepäck und trampelten unter den Blicken der Anwesenden zum Ausgang. Ein wenig erleichtert war ich schon, als ich endlich den forschen Blicken der anderen Gäste entkommen war und mich auf den Weg zum Nachtbus machen konnte.
An der Sammelstelle hatte sich mittlerweile eine größere Gruppe von Japanern eingefunden, die offensichtlich alle mit dem Nachtbus fahren wollten. Im Zentrum der Menge stand ein Mann mit einer Liste und rief laut in die Menge sich doch bitte anzustellen, damit er die Daten abgleichen könne. Also stellte ich mich für uns in die Schlange. Ich stand noch keine zwei Minuten an, da begann Ninja in ihrer Aufregung ins Zweifeln zu kommen, ob wir hier richtig wären.
Ninja: Glaubst du wir stehen hier richtig an?
David: Ja, der Mann hat doch eben gerufen, dass man sich hier anstellen soll.
Ninja: Vielleicht ist das für einen anderen Bus?
David: Ach, das wird er mir dann schon sagen. Außerdem sehe ich niemand anderen.
Ninja: Da vorne steht eine Frau mit einem Schild auf dem unsere Busgesellschaft steht. Frag da doch nach.
David: Ich steh doch bereits hier an. Und außerdem sieht es so aus als hält die Frau nur das Schild hoch, damit alle wissen, wo der Sammelpunkt ist.
Ninja: Frag trotzdem nach.
Und da sich Ninja nicht davon abbringen ließ, dass man bei der Frau nachfragen sollte, selbst aber auch nicht hingehen wollte, verließ ich die Schlange und fragte bei der Frau wegen unseres Nachbusses nach Kyoto nach. Da nickte sie kurz, deutete zur Warteschlange und bat mich darum, mich dort anzustellen. Also lief ich wieder zurück und wartete in der Schlange bis ich endlich vor dem Mann mit der Liste stand. So gut ich konnte, antwortete ich auf seine Fragen, während sich die anderen beiden aus dem Staub gemacht hatten. Nach einem kurzen und erstaunlich einfachen Gespräch wurde ich zu einem Bus in der Nähe gewiesen, an dem ich mich melden sollte. Also machte ich mich auf den Weg, gabelte unterwegs Ninja und Dominic wieder auf und sprach den Busfahrer an, der freundlich unser Gepäck annahm und verstaute und uns auf einem Plan unsere Sitzplätze in der letzten Reihe des Buses zeigte. Ich bedankte mich und stieg mit den anderen beiden in den Bus. Rund die Hälfte der Fahrgäste, fast ausschließlich junge Japaner, waren bereits da, als wir durch den Mittelgang bis zum Ende durchliefen und uns auf unsere Plätze setzten. Im Bus hatten Dominic und ich nur unsere Tüte mit Proviant und Dominics kleinen Rucksack bei uns, in denen wir alles verstaut hatten, was man für die Fahrt brauchen könnte: MP3-Player, Nintendo DS, Batterien zum Austauschen, Essen, Trinken, Taschentücher, einen Block zum Schreiben und ein Kissen. Eine Weile unterhielten wir uns noch, ehe der Bus schließlich losfuhr. Die ersten Minuten gab es noch eine Erläuterung zur Reiseroute und dem Verhalten im Bus, von der ich trotz angestrengtem Zuhören nur einige Fetzen verstehen konnte. Dann wurde das Licht ausgeschaltet und es wurde merklich ruhiger im Bus. Und so fuhren wir schließlich in die Nacht hinaus.
Etwa sieben Stunden dauerte unsere Fahrt, zudem machten wir knapp alle zwei Stunden Pause an Autobahnraststätte, damit man die Möglichkeit hatte sich die Beine zu vertreten und aufs Klo zu gehen. Schlafen konnte ich nicht, nicht weil die Sitze unbequem gewesen wären, nein, weil ich zu verspannt war, nachdem ich den ganzen Abend über meinen Rucksack getragen hatte. Zudem war es im Bus unheimlich stickig und heiß, weshalb ich mir nach einiger Zeit auch meinen Pullover auszog. Und so wälzte ich mich hin und her, damit ich halbwegs bequem mit meinem Kissen, meinem Pullover und dem zur Verfügung gestellten Deckchen dösen konnte. Bis morgens um vier Uhr versuchte ich zu schlafen und konnte es doch nicht, darum gab ich letzten Endes auf und akzeptierte es wach zu sein. Und von da an war die Fahrt wunderbar. Ich hörte Musik mit meinem MP3-Player und schaute von meinem Platz aus nach vorne in den Bus. Und dann begann ich meine Fantasie spielen zu lassen: Da ich in der Mitte der letzten Reihe saß, konnte ich als Einziger den gesamten Bus überblicken und kam mir wie ein König in seiner kleinen Welt vor. Trotz der zugezogenen Vorhänge, drang in regelmäßigen Abständen das Licht der Autobahn in den Bus und so stellte ich mir vor, wie ich auf einer nächtlichen Flugzeuglandebahn stand und im immer gleichen Rhythmus die Lichter um mich herum blinkten. Ein vorbeifahrender Lastwagen war plötzlich ein riesiger Flieger, der direkt neben mir landete. Die stickige Luft wurde zu einer warmen Sommernacht. Und irgendwann flog ich gedanklich durch den Weltraum, das gelegentliche Lichtblinken waren die Sterne an denen ich vorbeizog. Irgendwann stand ich an tropischen Stränden und der Autolärm wurde zum Wellenrauschen direkt vor mir. Dann wieder stand ich als Held auf einem Schlachtfeld, vor mir zwei Heere von Widersachern, eines links, eines rechts. Und in der Mitte, am Ende eines langen Ganges, sah ich die Fratze eines furchterregenden Monster, das acht Augen hatte, die ständig pulsierten, und in unregelmäßigen Abständen langgezogene Fauch- und Brummgeräusche von sich gab, um mich einzuschüchtern. Und so erkundete ich fremde Welten und erlebte Abenteuer, bis ich schließlich in Kyoto ankam und die Sonne aufging. Murrend puhlten sich Ninja und Dominic aus ihren Sitzen und packten ihre Sachen zusammen. Ich hingegen konnte es kaum abwarten endlich ins Freie zu treten und einfach in der Sonne zu stehen. Und so lief ich freudig mit meiner Tüte durch den Gang, um mich herum noch viele schlafende Japaner, die Vorhänge noch zugezogen. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bus und stand in Kyoto. Keine Spur von Müdigkeit, keine Spur von Erschöpfung, keinerlei Schmerzen mehr. Nur ein freudiges Herz, das sich an den Sonnenstrahlen eines neuen Tages erfreute.
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