Donnerstag, 5. März 2009

Betten und Beben

In Japan gibt es traditionell keine Betten, sondern Futons. Das sind nicht viel mehr als etwas dickere Schlafmatten, die man tagsüber zusammenrollen kann, um im Raum mehr Platz zu haben. Eine recht mühsame Angelegenheit, die aber auch ihre Vorteile bringt. Natürlich heißt dies nicht, dass alle Japaner auf Futons schlafen, im Gegenteil, heutzutage sind Betten, wie wir sie von uns kennen, sehr verbreitet. Zudem findet man oftmals einen bunten Mischmasch aus traditionell japanischen Betten und unseren westlichen Betten, beispielsweise in meinem Wohnheim.
Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich nach meiner Ankunft in Japan das erste Mal mein Zimmer betrat und auf meinem Bett einen zusammengerollten Futon liegen sah. Beides für sich wäre kein Problem gewesen, mit einem Bett bin ich vertraut und mit einem Futon hätte ich auch gelernt umzugehen, aber beides zusammen? Das verwirrte mich damals sehr. Also fragte ich Shinya, der mich damals am Bahnhof abgeholt und zu meiner Wohnung gebracht hatte, ob man sich aussuchen könne, wie man schlafen wolle, woraufhin dieser ziemlich verwirrt schaute und mich fragte, ob ich denn noch nie auf einem Futon geschlafen hätte. Als ich verneinte, rollte er einfach den Futon auf der Matratze des Bettes aus und spannte ein Bettlaken darüber. "Man legt einfach den Futon auf das Bett?", fragte ich damals verwirrt, woraufhin Shinya ein wenig verwundert erwiderte: "Na klar. Was dachtest du denn? Bei uns zu Hause schlafen alle so.". Und seitdem schlief ich auf meinem Futon-Bett. Oben Japanisch, unten Westlich. Eigentlich doppelt gemoppelt, weil man auf der Matratze nochmals eine Schlafmatte liegen hat, aber das war mir eigentlich egal, denn es war bequem.
Das Einzige, was mir seitdem zu denken gab, war das Bettgestell, das hin und wieder unheilvoll schwankte, da die Holzbretter am Fußende nicht komplett ineinander griffen. Und so hatte ich immer ein ungutes Gefühl, wenn sich mehr als eine Person auf dem Bett befanden, zum Beispiel wenn Besucher da waren, die auf dem besagten Futon-Bett Platz nahmen, weil ich keine andere Sitzgelegenheit in meinem Zimmer hatte. Darum überlegte ich hin und wieder, wenn ich abends im Bett lag und wieder einmal das Gefühl hatte, dass dieses bald lautstark in sich zusammenbrechen würde, ob ich nicht vielleicht den schweren Futon vom Bett auf den Fußboden räumen sollte, um direkt auf dem Fußboden zu schlafen. Doch das Bett hielt und nach einigen Monaten nahm ich ein gelegentliches Wackeln und Ächzen in Kauf. Dennoch schlief ich manchmal mit dem Gedanken ein, dass ich irgendwann mitten in der Nacht aufwachen würde, wenn das Bett unerwartet doch einmal zusammenbräche.
Schließlich kam der Morgen meines 158. Tages in Japan. Nun, eigentlich war es so früh am Morgen, dass man fast noch von der Nacht des 158. Tages sprechen könnte, denn ich wachte um 4:55 Uhr auf. Zeitgleich mit dem Erwachen bemerkte ich ein Wackeln und dachte mir: "Na toll, jetzt bricht das Bett zusammen. Nach über fünf Monaten." Nach zwei äußerst lang scheinenden Sekunden begann ich mich dann aber zu fragen, warum ein Bett wackelt, bevor es zusammenbricht. Und ich fragte mich, warum mein Bett nach zwei Sekunden Wackeln immer noch nicht zusammengebrochen war. Und dann fragte ich mich auch noch, warum die Lampe an der Decke schwankte, wenn mein Bett dabei war zusammenzubrechen. Es dauerte fast noch einmal eine Sekunde bis mein Gehirn alle Informationen aufgenommen und mit meiner ersten Situationsanalyse verglichen hatte, bevor mir schlagartig bewusst wurde, dass mein Bett gar nicht zusammenbrach, sondern dass ich mein erstes, richtiges Erdbeben erlebte.
Es klingt komisch, aber ich wollte schon immer einmal ein echtes, kleines Erdbeben erleben, einmal dastehen, wenn alles wie auf einem Schiff schaukelt, nur schneller. Natürlich wollte ich keine Beschädigungen am Haus oder gar eigene Verletzungen, nein, ich wollte nur einmal eine Naturkatastrophe erleben, bei der niemand zu Schaden kam. Und da mir eine kleine Überschwemmung oder ein kleiner Wirbelsturm nicht geeignet für eine Kostprobe von einer Naturgewalt schienen, fand ich die Idee von einem schwachen Beben, bei dem nichts zu Bruch ging und niemand zu Schaden kam, immer sehr reizvoll. Da Japan direkt an der Schnittstelle von drei Kontinentalplatten liegt, ereignen sich hier öfters kleine und größere Beben, die ich zu meinem Bedauern aber nie miterlebt habe ("Naturgewalten").  Die meisten Beben in Japan sind so schwach, dass man sie einfach nicht mitbekommt, wenn man nicht den ganzen Tag auf ein Wasserglas schaut, um zu sehen, wann sich die Oberfläche leicht kräuselt. Und so habe ich die bisherigen Beben kurzerhand verschlafen oder war zu beschäftigt, um die minimalen Beben, von denen es in meiner Zeit in Japan sicherlich schon dutzende gab, zu bemerken.  Darum hörte ich Katharina immer nur berichten, dass es irgendwann wieder einmal leichte Beben gegeben habe, die ich nie selbst mitbekommen hatte. Nach fast einem halben Jahr hatte ich die Hoffnung darauf, ein Erdbeben einmal live mitzuerleben, schon aufgegeben, bis ich heute Nacht überraschend geweckt wurde. Und so lässt es sich vielleicht erklären, warum ich hellwach in meinem Bett lag und mit einem Grinsen die Decke anstarrte, während alles um mich herum wackelte.
Und dann kam die Stille. Es hatte nicht lange gewackelt, höchstens ein paar Sekunden, aber danach war plötzlich alles ganz still. Und mit der Stille kam die Angst. Ich weiß nicht warum, ich weiß nicht einmal genau warum erst jetzt, aber ich bekam Panik. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich begann unkontrolliert zu schwitzen, während meine Atemfrequenz beständig stieg. Und während mein Körper in Panik verfiel, war mein Kopf vollkommen klar. Ich hatte das Gefühl mich selbst zu beobachten, wie ein Testobjekt in einem Labor: Da saß jemand, der Panik bekam und ich schaute zu. Eine absurde Situation. Und während mein Körper noch auf Hochtouren arbeitete, war mein Kopf vollkommen fasziniert davon, wie unkontrollierbar man in Panik geriet und absolut nichts dagegen machen konnte. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis sich mein Körper wieder in den Normalzustand versetzt hatte, doch in meinem Kopf blieb ein seltsames Gefühl zurück, dass mich die plötzliche Reaktion meines Körpers auf die Gewalt der Natur nicht vergessen lies. War dies Instinkt gewesen? Ein Urinstinkt des menschlichen Körpers? Ich habe noch lange darüber nachgedacht, insbesondere weil ich mich über das Beben gefreut hatte.
Liege ich nun, nach meiner ersten miterlebten Naturkatastrophe, in meinem erstaunlich stabilen Futon-Bett und bin kurz vor dem Einschlafen, so wünsche ich mir nicht mehr freudig ein weiteres Erdbeben herbei, ganz gleich wie schwach es sei mag. Denn das was bleibt, ist keine Erinnerung an ein lustiges Schaukeln, sondern ein Gefühl der Angst und Hilflosigkeit, gegen das man nicht ankommen kann.

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