Das ist eine gute Idee, dachte ich mir, als Ayano mich übers Internet fragte, ob wir uns nicht einfach auf einen Kaffee treffen wollten. Schon seit Tagen verbrachte ich meine Zeit damit mich mit Freunden und Familie auf verschiedenen Wegen übers Internet zu unterhalten, weshalb mir ein persönliches Treffen eine willkommene Abwechslung war. Darum zog ich mich an, schnappte mir mein Portemonnaie und lief zum Bahnhof von Soka, wo ich mich mit Ayano in einem Buchladen verabredet hatte.
Es dauerte nicht lange und zwischen Reiseführern und Zeitschriften traf ich auf Ayano, die mir freudig entgegen winkte. Gemeinsam verließen wir den Buchladen und betraten ein nahegelegenes Café, setzten uns an einen kleinen Tisch am Fenster und bestellten einen Kaffee. Ayano ließ eine Wirtschaftszeitung auf den Tisch fallen, die sie sich eigens für ihre Bewerbungsgespräche gekauft hatte, um auf dem Laufenden zu sein und etwas über die aktuelle Politik sagen zu können. "Was passiert denn momentan in der Politik Japans?", fragte ich neugierig nach, woraufhin Ayano die Zeitung aufschlug und mir ein Bild des japanischen Ministerpräsidenten und Wirtschaftsministers zeigte. "DIE sind mal wieder in den Schlagzeilen.", sagte sie knapp und deutete mit dem Finger auf das Bild. "Ich finde unsere Politiker so peinlich. Die haben ständig irgendwelche krummen Dinger am Laufen. Und wenn es dann auffliegt, entschuldigen sie sich öffentlich und heulen vor den Fernsehkameras. Als ob das irgendetwas ändern würde. Bestimmt lacht das ganze Ausland über die japanischen Politiker.". "Ich glaube in Deutschland könnte kaum irgendjemand den Namen des japanischen Ministerpräsidenten nennen. Ich denke einige wissen nicht einmal wer momentan Bundeskanzler von Deutschland ist. Vor allem junge Leute verlieren in Deutschland das Interesse an Politik.", antwortete ich und schlürfte an meinem Kaffee. "Wirklich? Nun, hier in Japan ist es ähnlich. Viele junge Leute wählen nicht mehr und verlieren gänzlich das Vertrauen in die Politik. Ausländische Politiker kennen viele auch nicht mehr. Aber immerhin weiß ich, dass die deutsche Bundeskanzlerin Merkel heißt. Und davor war Schröder.". Erstaunt schaute ich Ayano an. "Du kennst wirklich die Namen der deutschen Bundeskanzler? Das überrascht mich. Ist Deutschland aus japanischer Sicht nicht einfach nur ein irgendein Land auf der anderen Seite des Globus?" "Zugegebenermaßen, ja. Ich kenne mich mit Deutschland auch nur ein wenig aus, weil meine Schwester deutsch lernt und ein Auslandsjahr in Deutschland verbracht hat. Sonst wüsste ich auch nichts. Schließlich hat Japan kaum wirtschaftliche Beziehungen nach Europa und alles was der gewöhnliche Japaner mit Deutschland in Verbindung bringt sind Würste, Bier und das Oktoberfest.". "Ja, das habe ich auch schon gemerkt. Und erstaunlich viele junge Japaner sprechen mich auch immer wieder auf die Autobahnen ohne Tempolimit an.". Ayano musste lachen und entschuldigte sich für die Unwissenheit ihrer Landsleute. "Du musst dich nicht entschuldigen.", unterbrach ich sie und hielt einen Moment inne, "Es ist nicht schlimm nicht viel über Deutschland zu wissen. Ebenso ist es nicht schlimm, wenn Deutsche nichts über Japan wissen, schließlich kann man nicht alles wissen. Aber ich würde mir wünschen, dass die Menschen nicht so leicht an Vorurteile und Gerüchte glauben würden. Gerade was Japan betrifft, haben viele Deutsche immer noch Vorurteile im Kopf, die sie vor Jahren oder gar Jahrzehnten aufgeschnappt haben. Und es ist so schwer diese falschen Annahmen und Verallgemeinerungen aus den Köpfen der Menschen zu bekommen." Ayano nickte, während sie zuhörte und ihren Kaffee trank. "Du hast recht. Ich bin hier in Japan immer wieder erstaunt darüber was Ausländer über Japan denken. Manchmal haben sie gar keine falschen Annahmen sondern nur eine eingeschränkte Sichtweise auf einen bestimmten Aspekt der Gesellschaft oder einige Traditionen, die sie sofort für ganz Japan verallgemeinern. So denken viele Ausländer immer ich würde ständig Sushi oder rohen Fisch essen, weil ich Japanerin bin, aber ich mag Sushi gar nicht wirklich und habe es das letzte Mal vor knapp vier Monaten gegessen.". "Ja, die Menschen sehen nur allzu oft genau das, was sie sehen wollen. Jene, die sich für japanische Populärkultur oder 'das durchgedrehte, verrückte Japan' interessieren, sehen hier natürlich nur haufenweise japanische Comics, Zeichentrickserien, einen Markt für Videospiele und Messen für allerlei abgedrehte Freaks. Wer das Vorurteil vom spirituellen Japan hat, wird überall die Verbundenheit zur Natur, das Traditionsbewusstsein, die Ethik der Samurai und die Nähe zu Buddhismus und Shintoismus sehen. Wieder andere sehen Japan als Vorreiter für Trend und Technik und haben nur Augen für die gigantischen Wirtschaftsunternehmen und die überfüllten Modestraßen. Irgendwie stimmt alles ein wenig und dann doch wieder nicht. Es ist als würde man bei einer Symphonie nur ein einziges Musikinstrument hören.". "Viele übersehen all die Probleme unter denen Japan leidet. Sie glorifizieren es und übersehen völlig, dass es hier massive Probleme mit Obdachlosigkeit und auch Fremdenfeindlichkeit gibt. Ja, ich würde mir wünschen, dass man mein Land mit einem etwas kritischeren Blick sieht.". "Und nicht alles für Bare Münze nimmt, was man hört oder ließt.", fügte ich hinzu. "Wie ich eingangs sagte: Es ist nicht schlimm unwissend zu sein und ich möchte auch nicht, dass sich plötzlich jeder für Japan oder Deutschland interessiert, aber ich würde mir wünschen, dass mehr Leute kritisch hinterfragen, was sie wissen. Oder glauben zu wissen. Denn es gibt nichts Schlimmeres als Menschen, die sich eine Weltsicht auf falschen Tatsachen aufbauen und sich nicht mehr von neuen Perspektiven und Ideen reizen lassen, weil sie zu sehr in ihrer kleinen, starren Welt verloren sind.".
Und so saßen Ayano und ich noch lange im Café und redeten über Japan und Deutschland. Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Darüber wie Freunde, Familie und Bekannte unsere Länder und die Welt sahen. Darüber wie wir die Welt sahen. Und darüber wie wir uns wünschen würden, dass andere die Welt sehen würden. Und auch als wir unseren Kaffee schon längst getrunken hatten und es bereits dunkel wurde, saßen wir an dem kleinen Tisch vor dem Fenster und diskutierten, lachten und erzählten und Geschichten aus dem Leben.
2 Kommentare:
Ich frage mich wirklich, warum die ganze Welt mit Deutschland immer das Oktoberfest und Weißwürste in Verbindung bringt. Anscheinend ist dieses Fest sehr außergewöhnlich und besonders, wenn sich das so rumspricht. Verstehe ich nicht.
Jaja, die heulenden japanischen Ministerpräsidenten ;-). Vielleicht muss man ihnen einfach mal sagen, dass das etwas peinlich rüberkommt ;-).
Ich frage mich auch immer, warum ausgerechnet das Oktoberfest und Würste zu den Markenzeichen der Deutschen zählen. Warum nicht...Karneval, Kuckucksuhren oder Weihnachtsplätzchen?
Immerhin haben wir in Japan nicht das Image der humorlosen, überpünktlichen Workaholics, wie in vielen europäischen Ländern. Zumindest hat sich noch niemand getraut mir das zu sagen ; )
Und ich glaube ich muss bald mal nach einem Video von einem weinenden, japanischen Ministerpräsidenten suchen, damit wir nachvollziehen können, worüber sich so viele Japaner aufregen.
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