Freitag, 7. August 2009

Drei letzte Abende

Ich bin im Nachhinein sehr glücklich mein Blog über mein Jahr in Japan so ausführlich und sorgfältig geführt zu haben, weil ich so ein buntes Sammelsurium an Berichten, Bildern und für die Ewigkeit festgehaltener Erinnerungen habe. Doch wie halten jene ihr Jahr in Japan fest, die kein Tagebuch führen? Wie erinnern sie sich an all die Menschen, die sie hier getroffen haben? Natürlich hat jeder eine eigene Methode, macht sich selbst Gedanken, um jenes an Japan festzuhalten, was ihm wichtig ist. Der eine schießt tausende von Bildern, der andere zeichnet Geräuschkulissen auf, der nächste hält seine Eindrücke in Poesie fest, und wieder andere kaufen sich Andenken an jeden Ort, an dem sie waren. So vielfältig wie die Menschen sind, sind auch ihre Einfälle, doch eine Idee scheinen viele Personen gehabt zu haben: Ein Buch voller Erinnerungen zu führen. Viele Leute haben sich solch ein Buch zugelegt, das sie an ihre Freunde geben, damit diese sich darin in ihrem ganz eigenen Stil verewigen: Mit einer Zeichnung, herzlichen Worten, einer sachlichen Auflistung ihrer Daten oder einem Fließtext. Eine hübsche Idee, wenngleich man es sich als Besitzer doch recht einfach macht, weil man selbst keinen Finger krumm machen muss.
Gerade zum Ende des Semesters nimmt das Verteilen dieser Bücher ungeahnte Dimensionen an, weil viele Leute noch schnell einen Eintrag haben wollen, oder sich in den Büchern der anderen verewigen möchten. Ich besitze kein solches Buch, doch einige der Leute um mich herum und so kam es, dass sich in den letzten Tagen ein Buch nach dem anderen auf meinem Schreibtisch aufstapelte, ohne dass ich Zeit und Ideen hatte, um sie zu bearbeiten. Dort lag ein Buch von Milena, eines von Tomomi ("Zu sechst nach Kamakura", "Heiligabend in Soka"), eines von Lee und eines von ihrer thailändischen Freundin Vitano, mit der ich mich manchmal in der Mittagspause getroffen hatte ("Mein letzter Schultag"). Für Tomomi und Lee hatte ich schnell ein paar Worte in das Buch geschrieben, es fiel mir nicht schwer, bei Milena hatte ich eine gute Idee, doch für Vitano fiel mir nichts ein. Es wäre nicht so, als hätte ich sie nicht gemocht, die Zeit mit ihr nicht genossen, aber wir kannten uns kaum und so wusste ich nicht, was ich schreiben sollte. Alles was wir gemacht hatten, war das gemeinsame Verbringen der Mittagspausen. Und so lag das Buch auf meinem Schreibtisch, ohne dass mir eine zündende Idee kam. Und schließlich kam der Tag, an dem ich es zurückgeben musste.
"Morgen braucht Vitano ihr Buch wieder. Hast du endlich etwas geschrieben?"
"Nun, noch nicht wirklich."
Lee schaute ein wenig streng und seufzte.
"Schreib einfach einen simplen Satz und deine Adresse. Das genügt doch."
"Ich hätte aber gerne etwas Persönliches. Etwas, das nur ich eintragen würde."
Lee nickte beipflichtend.
"Natürlich wäre das gut, aber wenn dir nichts einfällt, dann mach es wie ich es gesagt habe. Es ist immerhin besser etwas Pauschales zu schreiben, als nichts. Und morgen muss ich das Buch wirklich dringend zurückgeben."
Ich nickte und ein wenig niedergeschlagen ging ich zurück in mein Zimmer, wo mich das Buch noch immer vom Schreibtisch aus anblickte.
An diesem Tag machte es in unserem kleine Freundeskreis im Wohnheim die Runde, dass die Britin Jessica einen Yukata, also traditionelle japanische Kleidung, angelegt hatte und für den Vormittag als Fotomodell bereit stand. Lee und Milena hatte bereits Bilder geschossen und so ging auch ich im Verlauf des Vormittags in ihr Wohnung und schoss gemeinsam mit ihr und Dan ein paar Bilder.
"Kommst du heute Abend mit uns in die Kneipe? Es ist unser symbolischer letzter Abend, schließlich fliegen wir bereits übermorgen."
"Ich bin nicht wirklich ein Kneipengänger."
"Und wenn wir dich ganz lieb bitten? Wir fühlen uns ganz einsam, wenn du nicht kommst."
"Ach quatsch, bestimmt nicht."
Dan räusperte sich im Nebenzimmer.
"Ich bin ganz einsam, wenn du nicht mitkommst."
Ich musste lachen und überlegte einen Moment. Warum ging ich nicht mit? Nur aus Prinzip ("Von Prinzipien, Bürden und der Suche nach sich selbst")? Und dann fiel mir der Kommentar eines Freundes ein:

Es gibt Leute, für die Spass haben nur über Parties und Alkohol geht und die sich nicht mehr an anderen Dingen erfreuen können. Und auf der anderen Seite der Skala gibt es Leute, die Parties absolut und grundsätzlich nicht mögen und sich nie überreden lassen einmal auf eine zu gehen und sich viel lieber an anderen Dingen erfreuen. Je nachdem aus welchem Blickwinkel man beide Gruppen betrachtet, sind sie entweder grundverschieden oder sehr, sehr ähnlich.
Vielleicht wäre das Leben von beiden Gruppen noch ein Stückchen reicher, wenn sie auch mal die andere Seite ausprobieren würden.

Dieser Kommentar hatte mich sehr zum Nachdenken gebracht. Warum sträubte ich mich so sehr dagegen mit den anderen auszugehen? Es waren meine Freunde, es war ihr letzter Abend, sie freuten sich auf mich und ich war nicht gezwungen Alkohol zu trinken. Warum also nicht? Und so sagte ich schließlich zu. Ich würde mit den Beiden ausgehen.


Bild1: Dan und ich gemeinsam mit Jessica im Yukata.


Bild2: Dan und ich noch einmal mit Jessica im Yukata, denn sie wünschte sich auch ein Foto von hinten.


Am Mittag traf ich auf Christa, die bereits mit dem Packen beschäftigt war.
"Heute ist mein symbolischer letzter Abend, da wollte ich noch einmal japanisch Essen gehen, bevor ich am Dienstag abreise. Möchtest du nicht mitkommen?"
"Oh gerne, aber heute Abend wurde ich leider schon von den Briten eingeladen. Kommst du denn nicht mit?"
"Nein, ich wollte lieber noch einmal traditionell essen, bevor es zurück nach Österreich geht. Aber mach dir keinen Kopf drum, ich gehe auch alleine."
"Das geht doch nicht. Du kannst doch nicht an deinem symbolischen letzten Abend alleine Essen gehen. Da lässt sich sicher etwas passend biegen."
Und es ließ sich tatsächlich etwas passend biegen, da die Briten bereits am Nachmittag ausgehen wollten: Erst in eine Kneipe, dann zum Singen. Und so sagte ich nur zur Kneipe zu, damit ich rechtzeitig wieder im Wohnheim war, um mit Christa Essen zu gehen. Und so packte ich die beiden letzten Abende in einen.
An diesem Nachmittag ging ich das erste Mal in eine Kneipe. Dan und Jessica nahmen mich ein wenig unter ihre Fittiche, während Milena sich mit den anderen Gästen vergnügte. Eigentlich dachte ich, dass es ein Abend nur für die Briten wäre, doch offensichtlich waren auch viele andere Personen gekommen, die Dan und Jessica gar nicht kannten. Und so verbrachten wir einen Großteil des Abends zu dritt. Es war alles neu für mich: Getränke an einer Theke bestellen, während des Sprechens einen Fernseher im Hintergrund laufen zu haben und sich nicht davon störe zu lassen, dass niemand wirklich auf seinem Platz saß. Ich hatte zu Beginn ein wenig Angst gehabt ausgegrenzt zu werden, weil ich keinen Alkohol trinke, doch recht schnell musste ich feststellen, dass dem nicht so war.
"Es ist okay, wenn du nicht trinkst. Wem fällt das denn auf? Ich bin immer ganz normal, auch wenn ich viel trinke."
Dan schaute mich von der Seite an und ich ließ meinen Blick über die anderen Anwesenden schweifen. Und er hatte recht. Ich fiel tatsächlich nicht auf, weil alle sich durch den Alkohol ganz unterschiedlich entwickelten: Einige kamen aus sich heraus, redeten und lachten, wie sonst nie, einige wurden peinlich lächerlich und machten sich zum Affen, während wieder andere noch genauso dasaßen wie zuvor. Es war ein bunter Haufen, bei dem man gar nicht mehr sagen konnte, wer nun getrunken hatte und wer nicht.
"Du hast recht. Wir verhalten uns beide wie immer, obwohl du schon einige Gläser getrunken hast und ich gar nichts."
Und dann stieß ich mit Dan an, er mit seinem Whiskey, ich mit meinem alkoholfreien Fruchtcocktail.


Bild3: Jessica und ihr Guinness. Guinness ist typisch irisch, wurde aber dennoch in dieser britischen Kneipe angeboten. "Sie spielen auch die ganze Zeit nur amerikanische Musik", meinte Jessica lachend. Offensichtlich sah man die Bezeichnung "britische Kneipe" nicht sehr eng.


Bild4: Da es ein Abschiedstreffen war, wurden Dan und Jessice reich beschenkt. Jeder erhielt eine CD und eine Collage mit Widmungen. Da ich im Vorfeld nichts von den Widmungen gewusst hatte, durfte ich mich nachträglich noch auf der Collage verewigen.


Bild5: Milena und der Japaner Hayato. Ich traf ihn heute das erste Mal und schloss ihn sofort ins Herz, weil auch er keinen Alkohol trank. Und so unterhielt ich mich recht oft mit ihm im Verlauf des Abends.


Bild6: Dan und ich verbrachten den Großteil des Abends miteinander. Ich glaube er hat sich wirklich gefreut, dass ich mitgekommen bin.


Film1: Ein kurzer Eindruck von unserer Runde in der britischen Kneipe.


Bild7: Die drei Personen, mit denen ich an diesem Abend am meisten Zeit verbrachte: Hayato, Dan und Jessica.


Nach knapp drei Stunden in der Kneipe brach ich zum Wohnheim auf und traf auf Christa, die bereit war zum Ausgehen. Und nachdem ich mich schnell umgezogen hatte, liefen wir im Nieselregen bis zu einem Sushirestaurant, das Christa sich für ihren symbolischen letzten Abend ausgesucht hatte. Wir waren beide nass, als wir angekommen waren, unsere Mägen knurrten und dennoch mussten wir warten, bis ein Tisch frei wurde. Aber wir nahmen es mit Humor, unterhielten uns und genossen unsere Zeit zu zweit.
"Ich bin froh, dass es so gekommen ist. Erst trinken und dann auch noch gut essen."
"Ja, ich konnte auch erst in Ruhe in meinem Chaos arbeiten, bevor ich nun endlich entspannt essen kann."
"Schade, dass wir uns erst so spät kennengelernt haben. Wir hätten bestimmt viel Zeit miteinander verbracht."
"Ja, da hast du recht. Aber wer sagt denn, dass wir in Zukunft nicht noch viel Zeit miteinander verbringen werden? So weit sind Österreich und Deutschland schließlich nicht voneinander entfernt."
Eine Weile redeten wir, dann wurde ein Tisch für Zwei frei und wir konnten endlich zulangen. Dreizehn Teller verschlang jeder von uns, doch wir wollten für einen Abend einmal nicht auf den Preis schauen. Wir nahmen uns alles, was uns schmackhaft erschien vom Band, empfahlen uns gegenseitig Sushi, die wir besonders lecker fanden und wagten uns gelegentlich auch einmal an exotischere Gebilde.
"Können wir für einen Moment ruhig sein? Ich möchte gerne die Geräuschkulisse einfangen. Drei Minuten lang."
Christa hatte ihr Mikrofon ausgepackt, mit dem sie bei den unterschiedlichsten Situationen Geräusche aufzeichnete, um für sich selbst Japan in Tönen einzufangen.
"Natürlich, kein Problem."
Und so saßen wir für über drei Minuten lang da, während des Mikrofon die Geräusche des Sushirestaurants einfing.
"Weißt du, ich finde es so toll, dass wir drei Minuten lang stillschweigend nebeneinander sitzen und mehr Spass haben, als mit den meisten Personen, während sie sprechen."


Bild8: Eine kleine Auswahl der Sushi, die ich an diesem Abend mit Christa aß.


Bild9: Christa ist beim gemeinsamen Essen guter Laune.


Film2: Ein Eindruck von dem Sushirestaurant, in dem ich an diesem Abend gemeinsam mit Christ war.


Als ich am späten Abend nach Hause kam, nahm ich mir Vitanos Buch zur Hand und legte mich auf mein Bett. Ich wusste, was ich zu schreiben hatte. Jeder schätzt in seiner Zeit in Japan andere Dinge, dokumentiert seinen Aufenthalt auf eine andere Weise, nimmt auf seine ganz eigene Art Abschied. Dabei geht es nicht darum die großen, die bewegenden Worte zu finden, es geht um die kleinen Dinge, mit denen wir uns alle im vergangenen Jahr gegenseitig verändert haben, jenen Momente, die ewig in Erinnerung bleiben. Und so bedankte ich mich bei Vitano für die kostbaren Minuten in der Mittagspause, die wir miteinander verbracht hatten. Kleine Momente, die ich wohl ebenso wenig vergessen werde wie meinen letzten Abend mit Jessica, Dan und Christa.

1 Kommentar:

  1. na das muss aber ein weiser freund von dir gewesen sein, der dir da so einen tiefgruendigen kommentar hinterlassen hat ;)
    bestimmt hat er tiefe einsichten in die menschliche psyche und in die welt allgemein erlangt und kennt alle werke von konfuzius und tenzin gyatso auswendig ;)

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